Von Felix Straumann. Aktualisiert am 31.03.2011
Erstmals kommen Netzhautimplantate auf den Markt, die Blinden das Sehen ermöglichen. Die Patienten reagieren vorerst zurückhaltend.
Blinde wieder sehen lassen: Mit dem Argus-Implantat soll das möglich sein.
Bild: Keystone
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Blinden das Augenlicht zurück geben: Was bisher ausschliesslich Stoff für Bibelerzählungen und Göttersagen war, macht die Technik nun möglich. Zumindest ein Stück weit. Seit knapp zwei Monaten hat erstmals ein Netzhaut-Implantat eine Marktzulassung. Die Bewilligung gilt für die EU, Island, Norwegen und Liechtenstein; die Zulassung für die Schweiz soll in absehbarer Zeit folgen. Geplant ist, ab Ende Juli das Implantat mit dem Namen Argus europaweit an vier Spitälern in Genf, Paris, London und Manchester anzubieten.
Profitieren können in erster Linie Betroffene mit fortgeschrittener Retinitis pigmentosa, einer Netzhautdegeneration, unter der weltweit rund 15 Millionen Menschen leiden, in der Schweiz sind es 1500. Den Patienten, die deswegen erblindet sind, ermöglicht das Implantat in vielen Fällen das Erkennen von Konturen; manche erkennen sogar Buchstaben und können lesen. «Wir haben bereits viele Interessenten», sagt Gregoire Cosendai, Vizepräsident der kalifornischen Herstellerfirma Second Sight Medical Products.
Fotozellen auf dem Chip
Seit den frühen 90er-Jahren arbeiten Wissenschaftler und Ingenieure rund um den Globus an solchen Prothesen. Sie verfolgen dabei unterschiedliche Ansätze, wie bei Patienten mit beschädigter Netzhaut optische Informationen aus der Umgebung ins Gehirn gelangen können. Beim am weitesten gediehenen Implantat Argus nimmt eine Minikamera in der Brille des Patienten Videobilder auf und sendet sie an ein externes Gerät, das die Informationen in elektrische Impulse umwandelt. Diese Impulse werden drahtlos an einen Chip mit 60 Elektroden auf der Netzhaut übertragen, der die noch vorhandenen Zellen stimuliert. Der Patient nimmt im Gehirn dadurch Lichtmuster wahr. Diese muss er allerdings noch zu interpretieren lernen, damit er das Implantat als Sehhilfe nutzen kann. In der Regel dauert dies ein halbes Jahr.
Doch die Konkurrenten sind Argus auf den Fersen. Ihre Teilerfolge sind in verschiedenen viel beachteten Studien dokumentiert. Zukunftsmusik sind Ansätze, die Sehhilfen mit Gentherapie kombinieren oder Stammzellen zu nutzen versuchen. Weiter ist man hingegen beim deutschen Unternehmen Retina Implant, einem Spin-off der Universität Tübingen. «Wir wollen Anfang 2012 auf den Markt», sagt der Vorstandsvorsitzende Walter Wrobel. Das Implantat mit drei Millimeter Durchmesser und 50 Mikrometer Dicke wird dabei nicht wie bei Argus auf die Netzhaut gesetzt, sondern darunter operiert – zwischen Netzhaut und Aderhaut. Beim deutschen Produkt braucht es keine Brille mit eingebauter Kamera, da sich auf dem Chip Fotozellen befinden, die das Licht direkt in elektrische Impulse umwandeln. Nötig ist einzig eine Energiezufuhr von aussen. Weil sich die Fotozellen mit dem Auge bewegen, muss der Implantatträger nicht den Kopf drehen, wenn er zum Beispiel die Konturen eines Objekts mit seinem Blick abtasten will. «Die Koordination der Hand mit dem Auge wird dadurch besser», sagt Wrobel. Weil die Übertragung von optischer Information direkter sei, müsse zudem nach der Implantation die Wahrnehmung nur noch anderthalb Wochen lang trainiert werden.
Jeder Vierte sieht Buchstaben
All diese Vorteile funktionieren zwar auf dem Papier, der Praxisbeweis steht jedoch noch aus. «Die bisherigen Resultate der Firma Retina Implant sind nicht besser als unsere», sagt Gregoire Cosendai von Second Sight. Er dementiert auch, dass die Operation bei Argus-Implantaten häufig Komplikationen wie Infektionen oder Augenunterdruck verursache, wie dies die Konkurrenz behauptet. «Der Eingriff ist verhältnismässig einfach», so Cosendai.
Die Möglichkeit, Menschen mit raffinierter Technik das Augenlicht zurück- zugeben, fasziniert viele. Betroffene, die von solchen Retina-Implantaten profitieren könnten, sind jedoch zurückhaltend. «Unter den Blinden ist die Aufregung über die neuen Möglichkeiten viel kleiner als bei den Sehenden», sagt Christina Fasser, Geschäftsleiterin der Selbsthilfeorganisation Retina Suisse. Sie kennt Patienten, denen bereits solche Sehhilfen in Rahmen von Studien implantiert wurden: «Sie finden es sehr interessant und sind begeistert, dass sie mehr sehen, als sie gedacht hätten», sagt Fasser. Doch das Leben habe sich deswegen nicht verändert. Dafür seien die Geräte noch zu wenig ausgereift. Dass die Implantate heute erst rudimentäre Sehhilfen sind, räumen auch die Hersteller ein. «Es ist ein künstliches Sehen, das zwar nützlich sein kann, aber weder Blindenstock noch Blindenhund ersetzt», sagt Gregoire Cosendai von Second Sight.
Wie gross der Nutzen ist, differiert dabei von Patient zu Patient. Nach den Angaben von Cosendai nahmen von den rund 30 Patienten, die bislang ein Argus-Implantat erhalten haben, fast alle Hell und Dunkel wahr. Etwas mehr als die Hälfte konnte in Tests Bewegung erkennen. Rund einem Viertel gelang es, Buchstaben zu identifizieren, zwischen drei und fünf konnten gar in Ansätzen lesen. Ähnliche Ergebnisse beobachten auch die Deutschen, die ihr Implantat bisher 17 Patienten eingesetzt haben. Angesichts dieser Resultate bleibt fraglich, ob sich jetzt schon viele Patienten für die Sehhilfen entscheiden werden. Das Implantat selbst kostet gegen 100'000 Franken, Operation plus Training zusätzlich rund 15'000 Franken. Angesichts dieser Summen werden auch die Krankenkassen bei der Finanzierung noch zurückhaltend sein. So dürften künftig weiterhin die meisten Implantate im Rahmen von Studien, bezahlt von Forschungsgeldern, eingesetzt werden.
Fortschritte erwartet
Doch eine Verbesserung der Technik ist zu erwarten. «Wir müssen verstehen, warum ein kleiner Teil der Implantierten viel besser sieht als der Rest», sagt Veronika Vaclavik, die an der Augenklinik in Genf demnächst einem dritten Schweizer ein Argus-Implantat einpflanzen wird. Christina Fasser von Retina Suisse sagt: «Wir sind bei den Netzhautimplantaten wahrscheinlich etwa am gleichen Punkt wie bei den Cochlea-Implantaten vor 20 Jahren.» Diese Hörhilfen, die die beschädigten Hörzellen analog dem Retina-Implantat umgehen, ermöglichten damals ebenfalls nur rudimentäres Hören. Heute sind sie für Betroffene eine echte Hilfe und werden routinemässig eingesetzt.
«Blinde Menschen beobachten die Entwicklung der künstlichen Netzhaut vorsichtig optimistisch», sagt Fasser. «Wie seinerzeit die gehörlosen Menschen werden auch viele blinde Menschen abwarten wollen, was die Zukunft an Verbesserungen bringt, bevor sie sich für eine Implantation entscheiden.»(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 30.03.2011, 20:47 Uhr
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