Montag, 23. Februar 2015

INKLUSION: Voneinander lernen, miteinander umzugehen

Sonder- oder Regelschule – das sollen in Baden-Württemberg bald die Eltern entscheiden. Die Inklusion bringt Chancen und Probleme. Unser Redakteur hat Schülern und Lehrern zugehört.




Grundschulkinder mit Hörproblemen im BBZ Stegen Foto: BBZ Stegen
Maria, Anna und Markus* sitzen in der Ecke gleich hinter der Glaswand des Eingangs zur Grundschule. Um sie herum ist ein reges Kommen und Gehen, aber sie lassen sich weder von der Bewegung noch vom Lärm stören. Maria, die sich ein Mikrofon umgehängt hat, liest Markus leise einen Text vor – aber er kann sie dennoch gut hören, denn alles Gesprochene kommt per Funk direkt in sein Ohr. Eifrig schreibt er den Text nach Diktat nieder.

Von Natur aus hört Markus kaum etwas, doch ein Cochlea-Implantat hilft ihm technisch über diese Störung hinweg. Vor allem hat es bei ihm wie bei vielen anderen Kindern verhindert, dass er über der Taubheit stumm geworden ist – weil er übers Hören das Sprechen gelernt hat. So kann er selbstbewusst sagen: "Anna schaut dann nach, ob ich Fehler beim Schreiben gemacht habe." Anna trägt, unterm langen Haar gut verborgen, am Kopf hinterm Ohr ebenfalls ein Implantat. Sie kann das Hörgerät ausschalten – um etwa konzentrierter Markus’ Text Korrektur zu lesen.

Anna und Markus sind zwei Kinder der sogenannten Außenklassen, die das Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte (BBZ) am Rande von Stegen, einem Dorf im Dreisamtal bei Freiburg, unterhält. Und sie gehen in die Klasse von Maria an der Stegener Grundschule, wo sie ganz normal am Unterricht teilnehmen. Wobei der Unterricht allerdings nicht ganz normal ist. Wenn die Lehrerin und die Kinder miteinander sprechen, wird das Mikrofon, das Maria sich umgehängt hat, in der Klasse herumgereicht. Nur wer das Gerät hat, ist mit Sprechen an der Reihe. Das geschieht zwar mit Rücksicht auf die hörgeschädigten Kinder in der Klasse, die sonst wenig mitbekämen, was da gesagt wird. Aber es erzieht dazu, einander ausreden zu lassen und zuzuhören, sagt die BBZ-Lehrerin Jana Müllerleile – davon haben alle etwas. Und auch davon, dass alle angehalten sind, laut und deutlich zu sprechen. Niemand stört sich daran, wenn die drei Kinder mit Hörschwierigkeiten bitten, einen Satz zu wiederholen, den sie nicht verstanden haben.

Ausreden lassen, zuhören– das lernen alle

Die Aufnahme von Schülern mit Behinderung in der Regelschule – das ist Ziel auch der Inklusion, die jetzt in Baden-Württemberg Gesetz werden soll. Doch Außenklassen, wie sie das BBZ unterhält, gelten nach der reinen Lehre nicht als Inklusion – das wäre erst der Fall, wenn die Kinder ohne Unterschied am allgemeinen Unterricht teilnähmen. Doch das BBZ arbeitet mit seinen 17 Außenklassen in südbadischen Grund-, Haupt- und Realschulen seit Längerem erfolgreich – durchaus in der Absicht, die Schranken zwischen Hörgeschädigten und anderen Schülern abzubauen. BBZ-Lehrkräfte wie Jana Müllerleile kooperieren dabei eng mit den Pädagogen der aufnehmenden Schule und bestreiten mit ihnen zu zweit weitgehend den Unterricht, außerdem geben sie einige Stunden Sprachförderung für ihre Gruppe. "Die Teamstruktur in der Klasse und in der Schule muss klappen", sagt Stegens Grundschulrektorin Heide Flohr. Zugleich aber, beklagt sie, gebe es für ihre Schule keine zusätzlichen Stellen, obwohl Inklusion auch für sie eine starke Belastung sei.

In der Stegener Klasse 3a mit ihren 18 Kindern sitzen drei Hörgeschädigte und zwei Förderschüler. Für sie alle fühlen sich die beiden Lehrerinnen zusammen verantwortlich – wobei Jana Müllerleile zugibt, dass sie sich im Umgang mit den Förderschülern etwas unsicher fühlt: Auf deren Probleme wurde sie wegen der speziellen Ausrichtung ihres sonderpädagogischen Studiums nicht vorbereitet.

Aber so wie ihr wird es vermutlich vielen Sonderpädagogen gehen, wenn demnächst mit dem kommenden Inklusionsgesetz Eltern frei entscheiden können, ob sie ihr Kind auf die Regelschule schicken wollen oder doch die Sonder- oder Förderschule bevorzugen. Damit werden sich viele körperlich oder geistig behinderte Kinder unter Gleichaltrigen behaupten müssen, die ohne Behinderung dem Unterricht folgen und lernen können.

Dabei ist keinesfalls garantiert, dass sie dort permanent von ihren Spezialsonderpädagogen betreut werden. Deren Stundendeputate reichen dafür nicht aus, wenn nicht genügend behinderte Kinder in einer Klasse sind. Daher werden nicht alle Kinder, sagen viele Sonderpädagogen, im kommenden Inklusionsmodell auf die individuelle Pädagogik treffen, die sie für ihre Entwicklung benötigen und die sie heute in den Sonderschulen erhalten. Andererseits, darauf verweisen wiederum Inklusionsbefürworter, lösen sich viele Probleme durch die Interaktion der Schüler, die einander helfen und sich kümmern – wie im Fall von Maria, Anna und Markus.

Für besondere Bedürfnisse bleibt keine Zeit

Hanna und Sebastian haben allerdings erfahren müssen, dass die Inklusion nicht klappt, wenn sich Schule und Lehrkräfte nicht darauf einrichten, wenn Mitschüler keine Rücksicht nehmen. Bis zur siebten, achten Klasse hatten sie jeweils gut mithalten können an ihren Gymnasien in Hessen und in der Pfalz. Doch dann riss für Sebastian plötzlich der rote Faden im Unterricht. Er bekam nicht mehr alles mit, die Noten wurden schlechter. Die Lehrer meinten nur: "Du musst dich halt mehr anstrengen." Dass er Hörprobleme hatte, darauf einzugehen war angesichts des geforderten Lerndrucks keine Zeit. Ähnliches erlebte Hanna: "Es wurde zu schnell gesprochen, zu viel durcheinander – ich kam da nicht mehr mit." Das Aufbaugymnasium im BBZ Stegen war für beide der Ausweg.

Sie sind keine Einzelfälle. Thilo Feucht, Leiter des Gymnasiums am BBZ, bestätigt Hannas und Sebastians Erfahrungen: "Die Schwierigkeit liegt nicht in der Stofffülle. Aber die mit der achten Klasse einsetzenden komplexeren Inhalte verlangen nach Auffassung vieler Gymnasiallehrer insbesondere in G 8 ein höheres Tempo auch beim Sprechen im Unterricht." So rauscht der Stoff akustisch an den Hörgeschädigten vorbei, trotz Cochlea-Implantat und obwohl sie aufgrund ihrer Intelligenz bestens mit den übrigen Schülern mithalten könnten. "Ich habe mich regelrecht ausgegrenzt gefühlt", sagt Sebastian – irgendwann sogar aus den Pausengesprächen seiner Klassenkameraden.

Hanna und Sebastian sind ans BBZ gewechselt, obwohl sie damit das schützende Zuhause aufgeben und ins Internat auf dem Stegener Schulgelände ziehen mussten. Im Gymnasium, das dem G-9-Lehrplan folgt, trafen sie auf kleine Klassen. Dadurch können alle besser mitreden. Selbst wer auf Gebärdensprache angewiesen ist, dem gelingt es in diesem Rahmen, die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu lenken – in einer Regelschule hätte er wohl keine Chance. Sebastian nennt das einen "Schutzraum".

Martin Stücker, Leiter der BBZ-Grundschule, sagt dazu klar: "In einer Klasse mit 30 Schülerinnen und Schülern – da geht ein Hörgeschädigter einfach unter." Das Unterrichtstempo ist gedrosselt – dafür sorgen unter anderem mehr Unterrichtsstunden in Deutsch, in Englisch, in Mathematik. So bleibt Zeit, um alle Worte deutlich auszusprechen, für Wiederholungen, wenn jemand etwas akustisch nicht verstanden hat, für ein Nacheinander im Reden in der Klasse. Für Sebastian und Hanna zieht sich seither wieder ein reißfester roter Faden durch den Unterricht.

Sie hat auch nie das Etikett "Sonderschule" abgeschreckt, das über Einrichtungen wie dem BBZ mehr oder weniger sichtbar hängt und sie nach Ansicht der Inklusions-Befürworter aus dem übrigen Schulsystem ausschließt – obwohl gerade durch diese besonderen Schulen, wie die Sonderschulverfechter dagegenhalten, Kinder mit Behinderung überhaupt erst ins Schulsystem aufgenommen wurden und werden. Sebastian sagt dazu nur: "Der Name ist doch egal – Hauptsache, mir wird geboten, was das Beste für mich ist."

So sieht es auch Thomas Wojciak für seine beiden Kinder mit Hörschwierigkeiten: In Stegen hätten sie die Chance, durch die richtige Förderung es bis zum Abitur zu schaffen. Dafür ist die Familie vor sieben Jahren eigens von Pforzheim an den Tuniberg bei Freiburg gezogen, von wo die Kinder täglich mit dem Bus nach Stegen pendeln. Wojciak sieht durchaus die Probleme, dass seine beiden Buben die Freizeit nicht mit ihren Klassenkameraden verbringen können und am Tuniberg nur schwer Anschluss finden. Die kommende Inklusion wird aber auch nur in wenigen Fällen wohnortnah erfolgen können.

Wojciak schätzt die kleinen Klassen in Stegen, die dortigen speziell auf die Bedürfnisse von Hörgeschädigten ausgerichteten Unterrichtsräume. Weil jedes Nebengeräusch das Hören beeinträchtigt, muss die Akustik in den Räumen passen: Schallschluckende Wände oder Decken, dazu Teppichböden reduzieren den Geräuschpegel und vermeiden irritierende Halleffekte.

Das Sonderschulsystem ist in Gefahr

In der Stegener Grundschule hat die Gemeinde manche Unterrichtsräume entsprechend für die Außenklassen ausgerüstet – eine der vielen Investitionen, die mit der Inklusion in den Schulen auf alle Kommunen zukommen werden.

Der Direktor des BBZ, Hartmut Jacobs, macht aus seinen Vorbehalten gegenüber der Inklusion wenig Hehl. "Die reine Inklusion ist doch gar nicht umsetzbar", sagt er, "denn die von Behinderung betroffenen Kinder und Jugendlichen sind doch viel zu heterogen." Und zugleich sieht er das bestehende, bisher als pädagogisch vorbildlich gelobte Sonderschulsystem in seiner Substanz gefährdet: Irgendwann werden auf lange Sicht die Klassen selbst im BBZ zu klein, um noch alle Schultypen wie jetzt anbieten zu können.

Jacobs und sein Lehrerteam haben auf ganz eigene Weise auf die Inklusionsdebatte reagiert – sie haben das BBZ selber zur Inklusionsschule gemacht: Es inkludiert Kinder und Jugendliche, die problemlos die Regelschule besuchen könnten. Angefangen hat es mit dem Ganztageskindergarten, in dem gut und schlecht hörende Kinder aus der Nachbarschaft zusammenkommen. Bei den Eltern ist das frühpädagogische Programm dieses Kindergartens so beliebt, dass es bereits eine Warteliste gibt – für Kinder mit normalem Gehör.

Auch in der Grundschule sitzen Kinder mit normalem Gehör, seit Herbst vergangenen Jahres nimmt das Aufbaugymnasium ebenfalls hörende Schüler auf. Jacobs versichert, dieser Schritt diene nicht dazu, die Klassen zu füllen. Vielmehr will er das doch eher abgeschiedene BBZ öffnen, die Sonderschulen und ihre Schüler stärker hineinbringen in die Gesellschaft. Weshalb ihm der Gedanke der Inklusion, auch wenn er ihn in der oft verfochtenen Rigorosität kritisiert, gar nicht so fern ist. "Aber", sagt er, "das Wichtigste dabei bleibt der aufmerksame Blick für die Bedürfnisse des einzelnen Kindes."

* Namen der Schülerinnen und Schüler geändert

BBZ Stegen
Das Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte (BBZ) Stegen ist eine sonderpädagogische Einrichtung für Südbaden, auch wenn Schüler aus dem ganzen Bundesgebiet im Aufbaugymnasium lernen. Das pädagogische Angebot reicht vom Kindergarten bis zum Abitur; Berufsvorbereitung ist Teil des Unterrichts. Insgesamt besuchen rund 350 hörgeschädigte Kinder das BBZ und dessen 17 Außenklassen in Südbaden.

Inklusion
Am Dienstag will Kultusminister Andreas Stoch dem Kabinett seinen Entwurf für ein Inklusionsgesetz vorlegen. Danach haben die Eltern nach Beratung durch die Schulämter die freie Wahl, ob sie ihr behindertes Kind in eine allgemeine Schule oder in eine Sonderschule schicken wollen. Das Wahlrecht bezieht sich aber nur auf die Schulart, nicht auf eine bestimmte Schule. Dennoch soll an allen Schulen von der Grundschule bis zum Gymnasium Inklusion stattfinden, und zwar als gruppenbezogenes Angebot, sodass Sonderpädagogen gezielter eingesetzt werden können. Die Sonderschulen bleiben bestehen, sollen sich aber zu Beratungszentren fortentwickeln.

Mit dem Cochlea-Implantat
lassen sich frühzeitig Hörstörungen überwinden. Das Gerät besteht aus einem Sprachprozessor mit Mikrofon am Ohr und einem Implantat am Kopf, von dem aus elektrische Signale direkt in die Hörschnecke des Innerohres geleitet werden. Je früher das Gerät eingesetzt wird, um so besser entwickeln sich die fürs Hören und Sprechen notwendigen Bereiche im Gehirn.


Donnerstag, 19. Februar 2015

Hoffnung für gehörlose Kinder

Mit einem Implantat im Gehirn hört die dreijährige Angelina Töne
18.02.2015, 15:51 Uhr | Lauran Neergaard, AP


Quellen: www.t-online.de


Angelina kann mit drei Jahren erstmals Töne hören. Sie ist eines der ersten Kinder mit einem Hirnstamm-Implantat. (Quelle: AP/dpa)

Die dreijährige Angelica Lopez aus Texas ist taub zur Welt gekommen. Bei ihr sind die Gehörnerven nicht entwickelt. Für sie und andere gehörlose Kinder gibt es nun die Hoffnung, mit einem speziellen Implantat im Hirnstamm Töne wahrnehmen und sich besser verständigen zu zu können. Bisher war die Methode nur für Erwachsene zugelassen, aber bald sollen auch Kinder davon profitieren.

Angelica ist eine der wenigen Teilnehmerinnen einer Studie, in der die Wirksamkeit sogenannter auditorischer Hirnstamm-Implantate (ABI) bei kleinen Kindern erforscht wird. Die Gehörspezialistin Laurie Eisenberg von der Universität Südkalifornien (USC) in Los Angeles stellte eins der Projekte kürzlich bei einer Expertentagung in Washington vor.

Das Mädchen kam ohne Gehörnerven auf die Welt. Für solche Kinder kommt deshalb ein Cochlea-Implantat, eine Art Hörprothese für Menschen ohne Gehör, nicht in Frage. Ein solches Implantat sendet elektrische Impulse an die Hörnerven und stimuliert sie so. Die Folge ist eine klarere Ton- und Klangqualität. Sind jedoch keine Hörnerven vorhanden oder funktionieren sie nicht, bringt ein Cochlea-Implantat keine Verbesserung.

So funktioniert das Hirnstamm-Implantat

Ein ABI funktioniert ähnlich wie ein Cochlea-Implantat. Hauptunterschied: Elektrische Signale stimulieren nicht den Hörnerv, sondern einen Teil des Hirnstamms.

Für Erwachsene mit nicht funktionierenden oder fehlenden Hörnerven ist ein ABI bereits seit längerem eine Alternative. In den USA ist ein entsprechendes Implantat beispielsweise seit dem Jahr 2000 für Menschen ab zwölf Jahren zugelassen, die nach der Entfernung eines Tumors am Hörnerv ihr Hörvermögen verloren haben.

Hirnstamm-Implantate stellen das Hörvermögen nicht wieder her, aber die Patienten können Töne wieder erkennen und zwischen verschiedenen Tönen unterscheiden. Sie können außerdem beim Lippenlesen helfen.

Nachteil: komplizierte Hirnoperation nötig

Für Kleinkinder waren ABI in den USA lange nicht zugelassen, unter anderem, um sie nicht dem Risiko einer komplizierten Hirnoperation auszusetzen. Grayson Clamp ist das erste Kind, das in den USA ein Hirnstamm-Implantat bekommen hat. Die Operation wurde 2013 in der UNC Klinik in North Carolina durchgeführt.

In Italien begannen Forscher schon vor zehn Jahren, ABI an Kleinkindern auszuprobieren. Sie gingen von der Annahme aus, dass das Gehirn von Kindern entwicklungsfähiger ist als das von Erwachsenen und das Resultat in Bezug auf das Hörvermögen möglicherweise ein besseres.

Die ersten Töne machen Angelica Angst

Auf diese Hypothese baut auch Eisenberg ihre Arbeit auf. Dabei macht sie den Eltern betroffener Kinder keine übertriebenen Hoffnungen. Die Kinder würden nicht wie durch ein Wunder plötzlich Töne hören und diese dann wiedergeben können. "Es ist sehr viel Arbeit", sagt sie.

Als bei Angelica das ABI das erste Mal aktiviert wurde, weinte sie aus Angst vor den ungewohnten Tönen. Jetzt, fünf Monate später, beginnt die Kleine, mit Hilfe von Zeichensprache Töne ihrem Ursprung zuzuordnen: ein bellender Hund, ein Hustengeräusch. Seitdem sich Sprachtherapeuten um sie kümmerten, brabbele sie vor sich her, wie Babys es täten, berichtet ihre Mutter.

"Es ist überwältigend, ihre kleine Stimme zu hören", sagt Julie Lopez. Angelica höre nicht wie eine Dreijährige, hatte Eisenberg ihr bereits zu Beginn der Therapie erklärt. Sie erlebe das Hören wie ein neugeborenes Kind.

Je früher der Eingriff, desto größer die Chancen

Weltweit beobachten Forscher die Studien mit großer Aufmerksamkeit, auch in Deutschland. Bislang gibt es nur eine Handvoll Kleinkinder, bei denen ABI getestet werden. An der USC werden kleine Probanden ab zwei Jahren behandelt, in anderen Projekten sind die Teilnehmer noch jünger.

Die Arbeit mit Cochlea-Implantaten habe gezeigt, dass es ein Zeitfenster gebe, in dem das Gehirn besonders stark auf auditorische Reizung reagiere und ein Sprachvermögen entwickelt werden könne, wenn nur früh genug mit der Stimulation begonnen werde.

Prognose fürs Sprechenlernen noch unklar

Wenn der Eingriff in spezialisierten Zentren von erfahrenen Ärzten durchgeführt werde, seien Komplikationen selten, meint Robert Shannon, Professor für Hals-Nasen und Ohren-Medizin an der USC. Eine mögliche Nebenwirkung sei zum Beispiel Kribbeln im Hals oder im Gesicht. Es gehe nun darum herauszufinden, welche Kinder für ein ABI besonders geeignet seien und welche Erfolge man überhaupt erwarten könne, sagt der Wissenschaftler, zum Beispiel ob Kinder mit einem ABI sprechen lernen könnten oder auch telefonieren, so wie es mit einem Cochlea-Implantat oft möglich ist.

Dienstag, 17. Februar 2015

Zu wenig Unterstützung für gehörlose Kinder




Bild: (c) Die Presse (Bruckberger)
An Österreichs Pflichtschulen lernen nur sieben Prozent der Hörbehinderten Gebärdensprache. Im Burgenland sind es zehnmal so viele wie im Westen.

07.01.2015 | 10:32 |   (DiePresse.com)

Es gibt einen deutlichen Mangel an Dolmetschern für Gebärdensprache (ÖGS) - und das spüren vor allem auch die Schulen. Das zeigt eine Bedarfserhebung des Instituts für Höhere Studien (IHS). Ob gehörlose Kinder und Jugendliche eine höhere Bildung erreichen, hängt demnach in erster Linie von persönlichem Engagement ab. Also der Frage, wie sehr sich die Eltern und einzelne Lehrer engagieren. Dabei spielt auch der Zufall eine Rolle.

Wie viele Personen in Österreich insgesamt gehörlos oder schwerhörig sind und ÖGS als Erstsprache nutzen, ist mangels Daten nicht klar. Schätzungen gehen von 2000 bis 8500 Betroffenen aus, die Gebärdensprache wirklich beherrschen - dem gegenüber stehen allerdings nur rund 100 ÖGS-Dolmetscher. Dieser Mangel an Dolmetschern vor allem mit Kenntnissen des spezifischeren Vokabulars im mittleren und höheren Bildungsbereich wird in Interviews von den Betroffenen in der Studie als massives Problem genannt.

Mehr Personal für höhere Schulbildung

Allein um gehörlosen Schülern dieselben Chancen auf den Besuch der AHS-Oberstufe oder einer berufsbildenden mittleren oder höheren Schule (BMHS) zu geben wie Schülern ohne Behinderung, bräuchte es laut der IHS-Untersuchung (je nach Intensität der Betreuung) zwischen 27 und 86 zusätzliche Dolmetscher. Die Politik sei daher gefordert, deren Ausbildung zu fördern und auch entsprechende Stellen zu schaffen, so das Institut in seinen Empfehlungen.

Förderbedarf je nach Land unterschiedlich

Im Pflichtschulbereich werden nach den unterschiedlichen Definitionen der Landesschulräte rund 1400 Kinder und Jugendliche (ca. zwei Promille) als gehörlos oder hörbehindert eingestuft. Ob Schülern wegen schlechtem oder fehlendem Hörvermögen sonderpädagogischer Förderbedarf zuerkannt wird und ob sie an einer Sonderschule bzw. eigenen Schulen für Hörbeeinträchtigte (mit manchmal langem Anfahrtsweg oder Internat) oder integrativ unterrichtet werden, ist je nach Bundesland unterschiedlich. Insgesamt wird je die Hälfte an einer Sonderschule unterrichtet bzw. unterstützt von Gebärdensprachpädagogen in einer Klasse mit Kindern ohne Einschränkung beschult.

Kaum Gebärdensprache in Vorarlberg und Tirol

Internationalen Schätzungen zufolge beherrscht jeder zehnte Gehörlose die Gebärdensprache. An Österreichs Pflichtschulen werden hingegen nur sieben Prozent der Betroffenen gebärdensprachlich orientiert unterrichtet, dabei gibt es eine Bandbreite zwischen drei Prozent in Vorarlberg und Tirol und 29 Prozent im Burgenland.

Der insgesamt gesehen geringe Einsatz von ÖGS an Schulen könnte laut der Studie neben technischen Neuerungen (Cochlea Implantat etc.) auch daran liegen, dass nicht alle gebärdensprachlich orientierten Kinder entsprechend unterrichtet werden, wie zuletzt auch ein Fall aus Kärnten zeigte.

Gebärdensprach bei Prüfung verwehrt

Dort wollten Eltern einer gehörlosen HAK-Schülerin erwirken, dass für diese die Gebärdensprache als Unterrichtssprache gilt und sie damit etwa das Recht erhält, Prüfungen per Dolmetsch in ÖGS abzuhalten. Obwohl die ÖGS seit 2005 als eigenständige Sprache anerkannt ist, wurde der Schülerin dies allerdings verwehrt. Landesschulratspräsident Rudolf Altersberger (SPÖ) begründete die Ablehnung in einem Bericht des "Standard" mit dem "gesetzlichen Korsett", das ÖGS nicht als Muttersprache anerkenne und damit einen Sprachentausch nicht ermögliche. Die Schule könne daher nur mit Stützlehrern aushelfen.

Nur wenige schaffen es an die Uni

Mangels ausreichender Unterstützung ist der Bildungserfolg gehörloser Menschen der IHS-Studie zufolge derzeit stark von Eigeninitiative abhängig: So berichtet im Interview ein Betroffener, dass er nur dank eines zufällig stattfindenden Pilotprojekts einen Lehrplatz in einem "normalen" Betrieb erhalten hat. Ein anderer verließ extra sein Heimatbundesland, um in Wien eine weiterführende Schule mit speziellem Angebot für gehörlose Schüler zu besuchen. Bis an die Hochschulen schaffen es unter den derzeitigen Bedingungen nur wenige: So gibt es derzeit an den Unis rund 30 Studenten, die ÖGS verwenden - zumindest in Wien werden sie über die Initiative "GESTU. gehörlos erfolgreich studieren" seit 2010 durch (Schrift-)Dolmetscher und Tutoren unterstützt, allerdings gibt es auch hier laut der Erhebung zu wenig Unterstützungspersonal.

Die ÖGS sei insgesamt, wie in der Studie kritisiert wird, "in einem Defizitdiskurs gefangen, der an die 'Ausländerpädagogik' der 1960er bis frühen 1980er Jahre erinnert": Da ihr Einsatz im Gegensatz zu Minderheitensprachen nicht gefördert werde, könne sie nicht jene Universalität (z.B. mit für mittlere und höhere Bildung notwendigen Fachausdrücken etc.) entwickeln, dass sie als tatsächliche Erstsprache genutzt werden kann. Außerdem werde, wie bei Migrantensprachen auch, der Einsatz vom ÖGS teils mit dem Argument abgelehnt, dass er "desintegrativ" wirke.

(APA)

Montag, 16. Februar 2015

EHRUNG FÜR VERDIENSTE BEI ENTWICKLUNG DES COCHLEA-IMPLANTATS



Quellen: www.med-eng.de

Associate Professor Jim Patrick, Chief Scientist bei Cochlear Limited, wurde für seine außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen bei der Entwicklung des Cochlea-Implantats mit dem Order of Australia geehrt. Die hohe Auszeichnung, die von Königin Elisabeth II. zur Würdigung außerordentlicher Dienste von Bürgern Australiens geschaffen wurde, ist zugleich eine Anerkennung für Patricks Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Bereich der Biomedizin, für seine Lehrtätigkeit sowie für sein Engagement für die Zusammenarbeit von Fachverbänden.

Jim Patrick war Mitglied in dem von Professor Graeme Clark geleiteten ersten Cochlear Implant Research Teams (1975 – 1981), das an der Universität Melbourne (Australien) arbeitete und das weltweit erste Mehrkanal-Cochlea- Implantat erfand. 1981 gehörte er zu den Gründungsgesellschaftern von Cochlear Limited, dem heute weltweiten Marktführer auf dem Gebiet implantierbarer Hörlösungen, wo er derzeit als Senior Vice-President und Chief Scientist tätig ist.

Cochlea-Implantate erschließen Menschen mit Hörverlust die Welt des Hörens. Heutige Hörsysteme haben ähnliche Eigenschaften, wie der natürliche Hörsinn eines Menschen. Das gilt auch für Neugeborene mit einem hochgradigen Hörverlust bis vollständiger Taubheit sowie Erwachsene mit einem fortschreitenden Hörverlust. Laut Weltgesundheitsorganisation leiden weltweit etwa 360 Millionen Menschen an einem sie einschränkenden Hörverlust.
Cochlear Ltd.

Samstag, 14. Februar 2015

Moderne HörgeräteCochlea-Implantat – Prothese für Gehörlose


Quellen: www.focus.de

Häufig werden Menschen in Folge einer Zerstörung der Haar-Sinneszellen in der Cochlea, der Hörschnecke im Innenohr, taub. Die Sinneszellen nehmen mit ihren feinen Härchen den Schall auf, der vom äußeren Ohr über das Mittelohr in das Innenohr übertragen wird. Sie geben den Schall in Form von elektrischen Impulsen an den Hörnerv weiter. Sind die Haarzellen zerstört, kann der Betroffene nicht mehr hören.

Elektroden im Innenohr

Voraussetzung für ein Cochlea-Implantat ist, dass der Hörnerv intakt ist. Ist das der Fall, pflanzt der Chirurg in das Innenohr Elektroden, die elektrische Signale an den Hörnerv übermitteln und so die Funktion der zerstörten Sinneszellen übernehmen. Das Implantat besteht aus Elektroden, einem Magneten und einer Empfangsspule. Die Elektroden werden in die Hörschnecke implantiert, die Empfangsspule zusammen mit dem Magneten hinter dem Ohr.

Die Sendespule des Prozessors haftet mittels Magneten auf der Kopfhaut. Die Patienten tragen den Sprachprozessor am Körper oder direkt hinter dem Ohr. Moderne Prozessoren sind kleiner als eine Streichholzschachtel.

Implantat schon vor dem Kindergarten-Alter

Vom Cochlea-Implantat profitieren besonders Menschen, die im Laufe ihres Lebens taub wurden oder die an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit leiden. Auch gehörlosen Kleinkindern werden Geräte implantiert, um ihnen den Spracherwerb über die Ohren zu ermöglichen, bevor sich der Hörnerv zurückentwickelt. Befürworter plädieren für eine möglichst frühe Implantation bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr, da der Spracherwerb von sehr frühen Hörerfahrungen abhängt.

So klingt die Welt heutzutage mit einem Cochleaimplantat

Online-Audio-Demo zeigt eindrücklich die Weiterentwicklung der Technologie.



INNSBRUCK. Nicht mehr hören zu können ist für die meisten kaum vorstellbar. Dennoch gibt es viele Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen ihr Hörvermögen teilweise oder ganz verloren haben. Von der Hirnhautentzündung bis hin zum Hörsturz: Die Ursachen sind vielfältig und werden nicht immer mit Hörverlust in Verbindung gebracht.

Heutzutage können HNO-Ärzte die allermeisten Formen von Hörschwächen behandeln. Aber das ist längst nicht alles. Im Zeitalter von Hightech werden auch die Hörhilfen immer kleiner und ausgefeilter. Ganz besonders zeigt sich die rasante Weiterentwicklung im Bereich der Cochleaimplantate (CI).

Das erste CI wurde in den 1970erJahren entwickelt. Seitdem hat sich einiges getan. Besonderes Augenmerk legen die CI-Entwickler auf zwei Punkte. Zum einen muss das Implantat über Jahrzehnte hinweg sicher und einfach zu handhaben sein, zum anderen steht die Verfeinerung der Audioprozessor-Technologie im Fokus.

Störende Windgeräusche sollen das Hören nicht beeinflussen, im Restaurant möchte ich meinen Gesprächspartner hören und nicht die Leute am Nebentisch, und vor allem sollen sich die Klänge möglichst natürlich – am besten wie bei normalhörenden Menschen – anhören.

Was sich hier in den vergangenen Jahrzehnten getan hat, zeigt nun ein aktuelles Audio-Demo, das auf der Website von MED-EL, einem der führenden, in Österreich beheimateten Entwickler von CIs, unter www.medel.com/triformance zu finden ist. Die Simulation demonstriert drei unterschiedliche Hörstufen mit CI: Einmal komplett ohne moderne Audio-Technologie, dann mit zwei der heute drei essentiellen Technologie-Komponenten und zu guter Letzt in voller „Technologie-Montur“.

Außerdem besteht eine Wahlmöglichkeit zwischen der Wiedergabe eines Musikstücks und einer Männerstimme. In beiden Fällen ist der Unterschied verblüffend. Während man ohne moderne Technologie lediglich einen Roboter zu hören glaubt, kommt der Klang auf der zweiten Entwicklungsstufe schon fast normal daher. Erst beim Audiofile mit allen drei Komponenten, von den Technikern auch Triformance-Technologie genannt, merkt der Zuhörer, wie detailliert Klang überhaupt gehört werden kann und wie komplex seine Rekonstruktion sein muss.

Relativ natürliches Hören

„Wir sind in der Lage, vielen CI-Trägern ein relativ natürliches Hören zu ermöglichen. Selbstverständlich hängt das Ergebnis immer von der Ausgangssituation und dem Lernvermögen der einzelnen Person ab. Dennoch zeigt die Triformance-Simulation, wie weit wir im Bereich der Audio-Technologie schon gekommen sind“, sagt DI Dr. Peter Nopp MED-EL hörbar begeistert.

Der Traum aller Hörimplantat-Entwickler ist wohl, dass Menschen mit Hörverlust irgendwann wie ganz normalhörende Menschen hören können. Nopp: „Wir sind auf einem guten Weg dahin.“ Das Cochlea-Implantat war und ist bis heute der erste tatsächlich realisierte Ersatz eines Sinnesorgans.