Dienstag, 16. November 2010

Keine Garantie für normale Spracherwerb

NZZaS: Mensch & Medizin, Sprachentwicklung von Kindern mit Cochlea Implantat

Auch mit einem Cochlea Implantat lernen gehörlose Kinder die Lautsprache nicht mit links. Neue Studien legen nahe, die Erwartungen an das Hightech-Gerät zu relativieren. Von Iréne Dietschi



Quellen: http://www.gebaerden-sprache.ch/downloads/keine-garantie-fuer-normalen-spracherwerb.pdf
NZZ
NeueZüricherZeitung


Seit Ende der siebziger Jahre das Implantat in der Hörschnecke (Cochlea) als Hilfe für Gehörlose auf den Markt gekommen ist, wird es immer häufiger auch bei kleinen Kindern eingesetzt. Am Universitätsspital Zürich etwa ist ein Dirttel der Patienten, die ein Cochlea-Implantat bekommen, unter 5 Jahre alt. Die Erwartungen an das Gerät sind riesig: Es soll hochgradig schwerhörigen Kindern nicht nur das Hören ermöglichen, sondern ihnen auch zur Sprache verhelfen. Auf dem Kind lastet der Druck, die Lautsprache so zu lernen wie andere (hörende) Kinder auch. Wie realistisch sind diese Erwartungen? Im deutschsprachigen Raum gibt es nur wenige Studien, die den Spracherwerb von Kindern mit einem Implantat untersucht haben.

Eine davon wird am Kinderspital Zürich durchgeführt. Rainer Truninger und Susanne Dickhaus untersuchen bei 35 Kindern, die momentan zwischen 3 und 9 Jahren alt sind, die langfristige Sprachentwicklung. Zum Beispiel Dominic, der als gesunder, kräftiger Zwillingsknabe im Alter von 9 Monaten an einer schweren Hirnhautentzündung erkrankte und sein Gehör verlor. Wenig später wurde ihm beidseitig ein Cochlea-Implantat eingepflanzt. Dominic machte rasch Fortschritte: Mit 13 Monaten produzierte er melodiöse, vielseitige Laute, als Zweijähriger sprach er erste Wörter. Eine Leukämie-Erkrankung im Alter von 3 Jahren warf den Buben in seiner gesamten Entwicklung zurück, doch er erholte sich und konnte mit 5 gesund in den Sprachheilkindergarten eintreten. Ein Jahr später sagte er Sätze wie: "Papi goot i de Polizei schaffe." Anders die Entwicklung von Roberto, der stark schwerhörig zur Welt kam, mit 6 Monaten Hérgeräte, dann audiopädagogische Therapie und mit 27 Monaten ein Cochlea-Implantat bekam. Sein Spracherwerb verlief deutlich Langsamer als der von Dominic, erst mit 4 Jahren sprach er ein paar Wörter. Sein Sprachverständnis war schlecht.

Im Sprachheilkindergarten war er kaum integrierbar. Erst als man ihn mit einzelnen Gebärden zu unterstützen begann, machte er Fortschritte. Mit 6 Jahren war Roberto erstmals imstande, von Geschehnissen zu erzählen. Im Mittelwert verläuft der Spracherwerb bei Kindern mit einem Cochlea-Implantat deutlich langsamer als bei hörenden Kindern, doch die unterschiede von Kind zu Kind sind sehr gross."Etwa ein Drittel der Kinder mit Cochlea-Implantat lernt die Lautsprache ähnlich gut wie hörende Kinder", sagte Kinderarzt Truninger, "ein weiteres Drittel der Kinder kommt verzögert zur Sprache, bei letzten Drittel ist die Sprachentwicklung stagnierend, und die Kinder sind angewiesen auf gebärdensprachliche Förderung." Wörter lernen sie schneller als grammatische Regeln, bei Adjektiven sind sie praktisch gleich gut wie hörende Kinder- "vielleicht, weil Adjektive das Visuelle ansprechen, über das Kinder mit einem Cochlea-Implantat die Welt vermert wahrnehmen", wie Sprachheilpädagogin Dickhaus vermutet.

Äussere Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle, zum Beispiel das Implantationsalter oder Erfahrungen mit Sprache vor der Operation. So hatte Dominic, der 9 Monate lang normale (Sprach-) Laute hörte und dann sehr früh operiert wurde, von Anfang an die besseren Karten als Roberto, der seit seiner Geburt fast nichts hörte. Robertos Beispiel zeigt, wie wichtig auch bei Kindern mit Implantat das Einbeziehen von Gebärden sein kann: Als man dem Buben diese Möglichkeit eröffnete, machte er sprachlich eine Entwicklungssprung. "Man sollte beide Wege offenhalten", resümiert Rainer Truninger, "gerade Kinder , die auf das Implantat nicht so gut ansprechen, sollten mit Gebärden unterstützt werden. Viele machen dann auch lautsprachlich starke Fortschritte." Hinweise fürs oft behauptete Gegenteil-dass Gebärden die Lautsprache behinderten- gebe es keine.

Die Bedeutung der Gebärdensprache betont auch Gisela Szagun, eine renommierte Sprachwissenschaftlerin, die an der Universität Oldenburg nach einer Pilotuntersuchung vor kurzem eine grosse, 140 Teilnehmer umfassende Studie zum Spracherwerb von Kindern mit Cochlea-Implantat abgeschlossen hat. "Näturlich ist die gesprochene Sprache das erste Ziel", sagte sie in einem Interview. "Wenn aber der Erwerb der gesprochenen Sprache zu langsam und unzureichend verläuft, sollte der Erwerb der Gebärdensprache in Betracht gezogen werden." Kinder brauchte in den Ersten vier Lebensjahren eine Sprache, egal ob gesprochen oder gebärdet, um ein Symbolsystem aufzubauen. Werde dieser Protzess zu stark verzögert, wirke sich dies negativ auf die Fähigkeit zu denken aus. 

Eine Garantie für den näturlichen Spracherwerb gebe es keine, fand Szagun weiter, eine Prognose für ein bestimmtes Kind lasse sich nicht stellen. Ob ein Kind das Implantat im ersten oder erst im zweiten Lebensjahr bekomme, spiele keine Rolle."Die oft gehörte Behauptung  -je fürher desto besser- hat sich in unseren Untersuchungen nicht bewarheitet", sagt sie. Viel wichtiger ist der Einfluss von Mama und Papa: Je geblideter die Eltern und je reicher die Sprache, in der sie mit ihrem Kind sprechen, desto grösser sind seine Fortschritte im Spracherwerb.

1 Kommentar:

  1. Ja auf sowas hab ich lang gewartet, das es durch Studien belegt wird das CI keine volle Garantie gibt das man gleichwertiges Gehör wie die hörenden erlangen kann wie die meisten propagandieren!
    Es bremst sozusagen die entwicklung des Kindes, da Gebärdensprache eine vollwertige Sprache ist und nicht als Primantensprache abgestempelt werden darf.

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