Montag, 23. Februar 2015

INKLUSION: Voneinander lernen, miteinander umzugehen

Sonder- oder Regelschule – das sollen in Baden-Württemberg bald die Eltern entscheiden. Die Inklusion bringt Chancen und Probleme. Unser Redakteur hat Schülern und Lehrern zugehört.




Grundschulkinder mit Hörproblemen im BBZ Stegen Foto: BBZ Stegen
Maria, Anna und Markus* sitzen in der Ecke gleich hinter der Glaswand des Eingangs zur Grundschule. Um sie herum ist ein reges Kommen und Gehen, aber sie lassen sich weder von der Bewegung noch vom Lärm stören. Maria, die sich ein Mikrofon umgehängt hat, liest Markus leise einen Text vor – aber er kann sie dennoch gut hören, denn alles Gesprochene kommt per Funk direkt in sein Ohr. Eifrig schreibt er den Text nach Diktat nieder.

Von Natur aus hört Markus kaum etwas, doch ein Cochlea-Implantat hilft ihm technisch über diese Störung hinweg. Vor allem hat es bei ihm wie bei vielen anderen Kindern verhindert, dass er über der Taubheit stumm geworden ist – weil er übers Hören das Sprechen gelernt hat. So kann er selbstbewusst sagen: "Anna schaut dann nach, ob ich Fehler beim Schreiben gemacht habe." Anna trägt, unterm langen Haar gut verborgen, am Kopf hinterm Ohr ebenfalls ein Implantat. Sie kann das Hörgerät ausschalten – um etwa konzentrierter Markus’ Text Korrektur zu lesen.

Anna und Markus sind zwei Kinder der sogenannten Außenklassen, die das Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte (BBZ) am Rande von Stegen, einem Dorf im Dreisamtal bei Freiburg, unterhält. Und sie gehen in die Klasse von Maria an der Stegener Grundschule, wo sie ganz normal am Unterricht teilnehmen. Wobei der Unterricht allerdings nicht ganz normal ist. Wenn die Lehrerin und die Kinder miteinander sprechen, wird das Mikrofon, das Maria sich umgehängt hat, in der Klasse herumgereicht. Nur wer das Gerät hat, ist mit Sprechen an der Reihe. Das geschieht zwar mit Rücksicht auf die hörgeschädigten Kinder in der Klasse, die sonst wenig mitbekämen, was da gesagt wird. Aber es erzieht dazu, einander ausreden zu lassen und zuzuhören, sagt die BBZ-Lehrerin Jana Müllerleile – davon haben alle etwas. Und auch davon, dass alle angehalten sind, laut und deutlich zu sprechen. Niemand stört sich daran, wenn die drei Kinder mit Hörschwierigkeiten bitten, einen Satz zu wiederholen, den sie nicht verstanden haben.

Ausreden lassen, zuhören– das lernen alle

Die Aufnahme von Schülern mit Behinderung in der Regelschule – das ist Ziel auch der Inklusion, die jetzt in Baden-Württemberg Gesetz werden soll. Doch Außenklassen, wie sie das BBZ unterhält, gelten nach der reinen Lehre nicht als Inklusion – das wäre erst der Fall, wenn die Kinder ohne Unterschied am allgemeinen Unterricht teilnähmen. Doch das BBZ arbeitet mit seinen 17 Außenklassen in südbadischen Grund-, Haupt- und Realschulen seit Längerem erfolgreich – durchaus in der Absicht, die Schranken zwischen Hörgeschädigten und anderen Schülern abzubauen. BBZ-Lehrkräfte wie Jana Müllerleile kooperieren dabei eng mit den Pädagogen der aufnehmenden Schule und bestreiten mit ihnen zu zweit weitgehend den Unterricht, außerdem geben sie einige Stunden Sprachförderung für ihre Gruppe. "Die Teamstruktur in der Klasse und in der Schule muss klappen", sagt Stegens Grundschulrektorin Heide Flohr. Zugleich aber, beklagt sie, gebe es für ihre Schule keine zusätzlichen Stellen, obwohl Inklusion auch für sie eine starke Belastung sei.

In der Stegener Klasse 3a mit ihren 18 Kindern sitzen drei Hörgeschädigte und zwei Förderschüler. Für sie alle fühlen sich die beiden Lehrerinnen zusammen verantwortlich – wobei Jana Müllerleile zugibt, dass sie sich im Umgang mit den Förderschülern etwas unsicher fühlt: Auf deren Probleme wurde sie wegen der speziellen Ausrichtung ihres sonderpädagogischen Studiums nicht vorbereitet.

Aber so wie ihr wird es vermutlich vielen Sonderpädagogen gehen, wenn demnächst mit dem kommenden Inklusionsgesetz Eltern frei entscheiden können, ob sie ihr Kind auf die Regelschule schicken wollen oder doch die Sonder- oder Förderschule bevorzugen. Damit werden sich viele körperlich oder geistig behinderte Kinder unter Gleichaltrigen behaupten müssen, die ohne Behinderung dem Unterricht folgen und lernen können.

Dabei ist keinesfalls garantiert, dass sie dort permanent von ihren Spezialsonderpädagogen betreut werden. Deren Stundendeputate reichen dafür nicht aus, wenn nicht genügend behinderte Kinder in einer Klasse sind. Daher werden nicht alle Kinder, sagen viele Sonderpädagogen, im kommenden Inklusionsmodell auf die individuelle Pädagogik treffen, die sie für ihre Entwicklung benötigen und die sie heute in den Sonderschulen erhalten. Andererseits, darauf verweisen wiederum Inklusionsbefürworter, lösen sich viele Probleme durch die Interaktion der Schüler, die einander helfen und sich kümmern – wie im Fall von Maria, Anna und Markus.

Für besondere Bedürfnisse bleibt keine Zeit

Hanna und Sebastian haben allerdings erfahren müssen, dass die Inklusion nicht klappt, wenn sich Schule und Lehrkräfte nicht darauf einrichten, wenn Mitschüler keine Rücksicht nehmen. Bis zur siebten, achten Klasse hatten sie jeweils gut mithalten können an ihren Gymnasien in Hessen und in der Pfalz. Doch dann riss für Sebastian plötzlich der rote Faden im Unterricht. Er bekam nicht mehr alles mit, die Noten wurden schlechter. Die Lehrer meinten nur: "Du musst dich halt mehr anstrengen." Dass er Hörprobleme hatte, darauf einzugehen war angesichts des geforderten Lerndrucks keine Zeit. Ähnliches erlebte Hanna: "Es wurde zu schnell gesprochen, zu viel durcheinander – ich kam da nicht mehr mit." Das Aufbaugymnasium im BBZ Stegen war für beide der Ausweg.

Sie sind keine Einzelfälle. Thilo Feucht, Leiter des Gymnasiums am BBZ, bestätigt Hannas und Sebastians Erfahrungen: "Die Schwierigkeit liegt nicht in der Stofffülle. Aber die mit der achten Klasse einsetzenden komplexeren Inhalte verlangen nach Auffassung vieler Gymnasiallehrer insbesondere in G 8 ein höheres Tempo auch beim Sprechen im Unterricht." So rauscht der Stoff akustisch an den Hörgeschädigten vorbei, trotz Cochlea-Implantat und obwohl sie aufgrund ihrer Intelligenz bestens mit den übrigen Schülern mithalten könnten. "Ich habe mich regelrecht ausgegrenzt gefühlt", sagt Sebastian – irgendwann sogar aus den Pausengesprächen seiner Klassenkameraden.

Hanna und Sebastian sind ans BBZ gewechselt, obwohl sie damit das schützende Zuhause aufgeben und ins Internat auf dem Stegener Schulgelände ziehen mussten. Im Gymnasium, das dem G-9-Lehrplan folgt, trafen sie auf kleine Klassen. Dadurch können alle besser mitreden. Selbst wer auf Gebärdensprache angewiesen ist, dem gelingt es in diesem Rahmen, die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu lenken – in einer Regelschule hätte er wohl keine Chance. Sebastian nennt das einen "Schutzraum".

Martin Stücker, Leiter der BBZ-Grundschule, sagt dazu klar: "In einer Klasse mit 30 Schülerinnen und Schülern – da geht ein Hörgeschädigter einfach unter." Das Unterrichtstempo ist gedrosselt – dafür sorgen unter anderem mehr Unterrichtsstunden in Deutsch, in Englisch, in Mathematik. So bleibt Zeit, um alle Worte deutlich auszusprechen, für Wiederholungen, wenn jemand etwas akustisch nicht verstanden hat, für ein Nacheinander im Reden in der Klasse. Für Sebastian und Hanna zieht sich seither wieder ein reißfester roter Faden durch den Unterricht.

Sie hat auch nie das Etikett "Sonderschule" abgeschreckt, das über Einrichtungen wie dem BBZ mehr oder weniger sichtbar hängt und sie nach Ansicht der Inklusions-Befürworter aus dem übrigen Schulsystem ausschließt – obwohl gerade durch diese besonderen Schulen, wie die Sonderschulverfechter dagegenhalten, Kinder mit Behinderung überhaupt erst ins Schulsystem aufgenommen wurden und werden. Sebastian sagt dazu nur: "Der Name ist doch egal – Hauptsache, mir wird geboten, was das Beste für mich ist."

So sieht es auch Thomas Wojciak für seine beiden Kinder mit Hörschwierigkeiten: In Stegen hätten sie die Chance, durch die richtige Förderung es bis zum Abitur zu schaffen. Dafür ist die Familie vor sieben Jahren eigens von Pforzheim an den Tuniberg bei Freiburg gezogen, von wo die Kinder täglich mit dem Bus nach Stegen pendeln. Wojciak sieht durchaus die Probleme, dass seine beiden Buben die Freizeit nicht mit ihren Klassenkameraden verbringen können und am Tuniberg nur schwer Anschluss finden. Die kommende Inklusion wird aber auch nur in wenigen Fällen wohnortnah erfolgen können.

Wojciak schätzt die kleinen Klassen in Stegen, die dortigen speziell auf die Bedürfnisse von Hörgeschädigten ausgerichteten Unterrichtsräume. Weil jedes Nebengeräusch das Hören beeinträchtigt, muss die Akustik in den Räumen passen: Schallschluckende Wände oder Decken, dazu Teppichböden reduzieren den Geräuschpegel und vermeiden irritierende Halleffekte.

Das Sonderschulsystem ist in Gefahr

In der Stegener Grundschule hat die Gemeinde manche Unterrichtsräume entsprechend für die Außenklassen ausgerüstet – eine der vielen Investitionen, die mit der Inklusion in den Schulen auf alle Kommunen zukommen werden.

Der Direktor des BBZ, Hartmut Jacobs, macht aus seinen Vorbehalten gegenüber der Inklusion wenig Hehl. "Die reine Inklusion ist doch gar nicht umsetzbar", sagt er, "denn die von Behinderung betroffenen Kinder und Jugendlichen sind doch viel zu heterogen." Und zugleich sieht er das bestehende, bisher als pädagogisch vorbildlich gelobte Sonderschulsystem in seiner Substanz gefährdet: Irgendwann werden auf lange Sicht die Klassen selbst im BBZ zu klein, um noch alle Schultypen wie jetzt anbieten zu können.

Jacobs und sein Lehrerteam haben auf ganz eigene Weise auf die Inklusionsdebatte reagiert – sie haben das BBZ selber zur Inklusionsschule gemacht: Es inkludiert Kinder und Jugendliche, die problemlos die Regelschule besuchen könnten. Angefangen hat es mit dem Ganztageskindergarten, in dem gut und schlecht hörende Kinder aus der Nachbarschaft zusammenkommen. Bei den Eltern ist das frühpädagogische Programm dieses Kindergartens so beliebt, dass es bereits eine Warteliste gibt – für Kinder mit normalem Gehör.

Auch in der Grundschule sitzen Kinder mit normalem Gehör, seit Herbst vergangenen Jahres nimmt das Aufbaugymnasium ebenfalls hörende Schüler auf. Jacobs versichert, dieser Schritt diene nicht dazu, die Klassen zu füllen. Vielmehr will er das doch eher abgeschiedene BBZ öffnen, die Sonderschulen und ihre Schüler stärker hineinbringen in die Gesellschaft. Weshalb ihm der Gedanke der Inklusion, auch wenn er ihn in der oft verfochtenen Rigorosität kritisiert, gar nicht so fern ist. "Aber", sagt er, "das Wichtigste dabei bleibt der aufmerksame Blick für die Bedürfnisse des einzelnen Kindes."

* Namen der Schülerinnen und Schüler geändert

BBZ Stegen
Das Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte (BBZ) Stegen ist eine sonderpädagogische Einrichtung für Südbaden, auch wenn Schüler aus dem ganzen Bundesgebiet im Aufbaugymnasium lernen. Das pädagogische Angebot reicht vom Kindergarten bis zum Abitur; Berufsvorbereitung ist Teil des Unterrichts. Insgesamt besuchen rund 350 hörgeschädigte Kinder das BBZ und dessen 17 Außenklassen in Südbaden.

Inklusion
Am Dienstag will Kultusminister Andreas Stoch dem Kabinett seinen Entwurf für ein Inklusionsgesetz vorlegen. Danach haben die Eltern nach Beratung durch die Schulämter die freie Wahl, ob sie ihr behindertes Kind in eine allgemeine Schule oder in eine Sonderschule schicken wollen. Das Wahlrecht bezieht sich aber nur auf die Schulart, nicht auf eine bestimmte Schule. Dennoch soll an allen Schulen von der Grundschule bis zum Gymnasium Inklusion stattfinden, und zwar als gruppenbezogenes Angebot, sodass Sonderpädagogen gezielter eingesetzt werden können. Die Sonderschulen bleiben bestehen, sollen sich aber zu Beratungszentren fortentwickeln.

Mit dem Cochlea-Implantat
lassen sich frühzeitig Hörstörungen überwinden. Das Gerät besteht aus einem Sprachprozessor mit Mikrofon am Ohr und einem Implantat am Kopf, von dem aus elektrische Signale direkt in die Hörschnecke des Innerohres geleitet werden. Je früher das Gerät eingesetzt wird, um so besser entwickeln sich die fürs Hören und Sprechen notwendigen Bereiche im Gehirn.


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