Seit den 1950er Jahren haben Wissenschafter an der Idee gearbeitet, durch elektrische Stimulation des Hörnervs tauben Menschen zu neuem Hören zu verhelfen. Diese zu Beginn umstrittene Forschung hat in den 1970ern zur Entwicklung des Cochlea-Implantates geführt. Heute sind solche Implantierungen in die menschliche Gehörschnecke (Cochlea) klinische Praxis, und man schätzt, dass weltweit mehr als 60 000 Menschen ein solches Implantat tragen. Diese Implantate erhalten ihre Signale von einem speziellen, unter der Haut liegenden Empfänger, der mit einem Mikrofon und einem Prozessor ausserhalb des Körpers verbunden ist.
Bei gewissen Formen des Hörverlusts können Cochlea-Implantate aber nichts ausrichten. Betroffen sind vor allem Menschen, die an der seltenen genetischen Krankheit Neurofibromatosis Typ 2 leiden, die zu Tumoren im Bereich des Hörnervs führt. Unoperiert können diese Tumore zu schweren Behinderungen oder zum Tod führen, da sie Druck auf den Hirnstamm ausüben. Deshalb müssen sich Betroffene einer Operation unterziehen, die meistens zum Verlust des Hörnervs und damit zur Taubheit führt.
Bereits 1979 wurde von Wissenschaftern des House Ear Institute in Los Angeles der Versuch unternommen, solchen Leuten mit einem Hirnstamm-Implantat zu helfen, indem der sogenannte cochleäre Kern - Endpunkt des Hörnervs und Teil des Hirnstamms - elektrisch gereizt wird. Nach dem cochleären Kern beginnt eine komplexe Verarbeitung des auditiven Signals in weiteren Kernen des Hirnstamms, bis die Information schliesslich den Cortex erreicht. Elektrische Stimulation in diesen Bereichen ist heute nicht Gegenstand der Forschung. Im Jahr 1979 wurde erstmals ein Hirnstamm-Implantat in eine ertaubte Frau verpflanzt; heute haben weltweit etwa 350 Menschen ein solches Implantat. Dieses wird aber nicht direkt in den cochleären Kern, sondern lediglich an dessen Rand verpflanzt, weil chirurgische Operationen im Hirnstamm heikel sind. Um das Risiko zu senken, erfolgen diese Implantationen jeweils während der gleichen Operation, in der die Tumore entfernt werden.
Da der cochleäre Kern eine komplexe innere Struktur aufweist und man ihn deshalb vom Rand aus nicht präzise stimulieren kann, haben die klassischen Hirnstamm-Implantate in den meisten Fällen nur eine rudimentäre Rückgewinnung des Gehörs ermöglicht. Seit 15 Jahren haben deshalb die Forscher des House Ear Institute in Zusammenarbeit mit Fachleuten des Huntington Medical Research Institute und dem australischen Cochlea-Implantat-Hersteller Cochlear versucht, eine den Hirnstamm penetrierende Version des Implantats zu entwickeln. Die Herausforderung bestand darin, Elektroden zu entwickeln, die das Nervengewebe nicht verletzen. Sind sie zu scharf, «erstechen» sie gewissermassen die Zellen, sind sie zu stumpf, werden die Zellen zerdrückt. Nach langwierigen Studien ist es gelungen, ein aus acht Elektroden bestehendes Implantat mit den gewünschten Eigenschaften zu entwickeln.
Vor zwei Jahren erlaubte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA klinische Versuche an Menschen mit dem neuen Implantat. Im ersten Halbjahr 2003 wurde einer 19-jährigen Frau ein Exemplar eingepflanzt, im November 2003 folgte ein weiterer Versuch an einer 42-jährigen Frau. Die dabei erzielten Ergebnisse wurden vor kurzem in Los Angeles der Öffentlichkeit vorgestellt. Demnach haben die ersten Versuche noch nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Bei der jüngeren Patientin führt nur die Stimulation einer der acht penetrierenden Elektroden zu einer Hörwahrnehmung. Die mit dem neuen Implantat erreichte Sinnesempfindung entspricht damit jener, die mit den klassischen Implantaten erreicht wird. Die Tests mit der älteren Patientin haben erst kürzlich begonnen, und deren Ergebnisse wurden an der Pressekonferenz noch nicht erläutert.
Nach Ansicht von Norbert Dillier, Leiter der experimentellen Audiologie am Universitätsspital Zürich, ist die Entwicklung penetrierender Hirnstamm-Implantate ein vielversprechendes, aber auch schwieriges Unterfangen. Hauptproblem ist das Finden der richtigen Stimulationsorte im cochleären Kern. Dies wird durch die Tatsache erschwert, dass durch die Tumore am Hörnerv der Kern in seiner anatomischen Struktur verändert werden kann, so dass die Anordnung der Elektroden im Implantat zu einer inadäquaten Stimulation führen kann. Falsch placierte Elektroden könnten dann andere Sinnesempfindungen wie etwa ein Tastgefühl auf der Haut verursachen und müssen abgeschaltet werden. Dennoch erachtet Dillier die Weiterentwicklung der Hirnstamm-Implantate für notwendig, da von Neurofibromatosis Betroffene oft weitere Tumore, etwa im Rückenmark, entwickeln, was in der Folge zu Lähmungen führen kann. Die Fähigkeit zur Kommunikation mit der Umwelt ist für diese Patienten besonders wichtig.
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