Mittwoch, 3. November 2010

Methodenstreit GS / LS




Bezüglich der Sprache der Gehörlosen hat sich in Europa und in den USA ein Streit entwickelt, den man in einem historischen Kontext sehen muss. Historisch ist dieser Streit besonders als Methodenstreit bekanntgeworden, weil er vorrangig unter dem Aspekt der anzuwendenden pädagogischen Methodik gesehen wurde. Die auditiv-verbale Methode war lautsprachlich orientiert, die "französische" Methode benutzte dagegen die Gebärdensprache. Der Methodenstreit war damit auch ein Sprachenstreit.

Als Ursprung des Zwistes wird oft der Mailänder Kongress von 1880 angesehen - tatsächlich aber entstand der Sprachenstreit schon um 1770 als Samuel Heinicke in Deutschland und der Abbé de l'Epée in Frankreich mit jeweils unterschiedlichem Ansatz tauben Kindern schulische Bildung zuteil werden ließen. Der Mailänder Kongress wurde zum Umbruch einer bis dahin unentschiedenen Entwicklung. Auf diesem Kongress entschieden sich die damaligen führenden Pädagogen, alle Gehörlosen lautsprachlich zu schulen, nämlich mit der so genannten oralen Methode. Bei dieser Methode wird der Gehörlose trainiert, zu artikulieren und von den Lippen zu lesen. Dies empfanden die Gehörlosen - zu Recht - als unterdrückend, nicht zuletzt weil ihnen dabei beispielsweise auch die Hände hinter den Rücken gebunden und Prügelstrafen verabreicht wurden, um die Gebärdensprache zu unterdrücken. Es ist nicht erstaunlich, dass heute praktisch alle Fachleute den Entscheid von 1880 und selbstverständlich die Nötigung, die Hände hinter den Rücken zu binden, kritisieren. Gehörlose wurden damals unterdrückt, und diese Unterdrückung hielt z.T. bis in die 1960er Jahre an.

Fortentwicklungen der Medizin und der Technik förderten den Trend zur oralen Methode. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die ersten Hörgeräte erfunden, die allerdings weit davon entfernt waren, Gehörlosen eine Hilfe darzustellen. Zu dieser Zeit waren diese Geräte nur den Schwerhörigen eine Hilfe.
In den 1950er Jahren wurde schließlich in den USA und Kanada die so genannte auditiv-verbale Methode entwickelt, bei der Gehörlose nicht mehr nur artikulieren und Lippenablesen lernen, sondern vor allem das Gehör trainieren und der Input als Informationseingang des Sprachverstehens im Zentrum steht. Die wichtigsten Vertreter der auditiv-verbalen Erziehung sindWarren Estabrooks (Kanada) und Susanna Schmid-Giovannini (Schweiz).

Doch erst mit der Entwicklung des Computerchips in den 1970er-Jahren wurde es erstmals wirklich möglich, den Gehörlosen nicht nur akustische Reize erleben zu lassen, sondern auch wenigstens zu einem bruchstückhaften Verstehen der gesprochenen Sprache zu verhelfen. Der Durchbruch gelang erst Ende der 70er Jahre, als die Hörgeräte sehr stark an Verstärkung gewannen und miniaturisiert worden. So kann erst seit Anfang der 80er-Jahre von einer echten auditiv-verbalen Therapie gesprochen werden, und als schließlich das Cochlea-Implantat Mitte der 90er Jahre sich auch bei Kindern etablierte, wurde die auditiv-verbale Methode bereits um einiges vereinfacht, auch wenn nach wie vor viel Aufwand für die Erlangung der Lautsprache zu erbringen ist.

Dennoch beruft sich ein Teil der Gehörlosen vor allem seit Anfang der 80er-Jahre auf die Gebärdensprache auch als Definition ihrer kulturellen Angehörigkeit. Diese Gehörlose fühlen sich in der Regel nicht in die hörende Welt integriert und erleben die hörende Gesellschaft als Isolation. Relevant ist hier auch, daß sich nach den ersten Forschungen durch William Stokoe1955 in den USA um 1980 auch in Deutschland die Erkenntnis durchsetzte, daß Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, auf dessen Entwicklung - allen Widerständen zum Trotz - die gebärdenden Tauben stolz sein konnten. Daher benutzt ein Teil der Gehörlosen bevorzugt die Gebärdensprache, die ja visuell wahrgenommen werden kann. Die älteren gehörlosen Personen sind vorrangig auf die Gebärdensprache angewiesen, da ihr auditorisches System sich nie entwickeln konnte - diese Entwicklung wird im 7. Lebensjahr fast gänzlich eingestellt.
Ein anderer Teil der Gehörlosen, vor allem jene, die um oder nach 1980 geboren wurden und die in einem psychosozialen günstigen Umfeld von der technischen und pädagogischen Entwicklung profitieren konnten, fühlt sich demgegenüber in der hörenden Gesellschaft integriert. Diese Personen kommunizieren am liebsten in der Lautsprache, sie können meistens die Gebärdensprache nicht. Dass alle Gehörlosen die Gebärdensprache können, ist daher nicht zutreffend. Lautsprachlich kommunizierende Gehörlose sind in der Regel nicht vor 1980 geboren, also noch jung. Aus diesen jungen Erwachsenen ist denn auch während der 90er Jahre eine Bewegung der lautsprachlichen Kommunikation entstanden, die im deutschsprachigen Raum in die Gründung der Selbsthilfeorganisation "Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Schweiz" (LKH Schweiz) (1994) und des "Förderverein Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Deutschland - LKHD - e.V." (2000) mündeten.

Spätertaubte erleben den Ausfall des für die Kommunikation wichtigen Sinnesorganes in der Regel als Schock. Meistens erfolgt die Verarbeitung der Ertaubung in 3 Phasen: Zuerst der Schock und die Trauer über den Verlust, dann Resignation und Isolation, manchmal mit Schamgefühlen einhergehend, dann schließlich die Öffnung, die in der Regel bei einer geeigneten medizinischen Indikation, mit dem Entscheid zur Nutzung technischer Hilfsmittel wie dem Hörgerät oder dem Cochlea-Implantat einhergeht.
Da taube, ertaubte und manche - nicht alle - gehörlosen Personen durch ihre Kommunikationsbehinderung in der Gesellschaft häufig isoliert sind, werden in allen drei Gruppen soziale Kontakte gern innerhalb von Gehörlosenkreisen gepflegt. Viele aus allen drei Gruppen - vor allem die der gebärdenden Gehörlosen - kritisieren die mangelnde Anpassungsfähigkeit der Hörenden.

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