15. September 2002, NZZ am Sonntag
Töne aus elektronischen Impulsen
Wo Mensch und Maschine verschmelzen: Mit den Hightech-Hörgeräten und Neuroimplantaten dringen Computertechnik und Mikroelektronik in das menschliche Nervensystem ein. Von Andreas Hirstein
Mehr Info von Teil 1 siehe unter:
Teil 2:
Cochlear-Implantate
Falls die Haarzellen im Innenohr komplett zerstört sind, helfen Hörgeräte nicht mehr. Die Hörfähigkeit kann dann nur noch mit Hilfe von Cochlear-Implantaten teilweise wiederhergestellt werden. Weltweit haben 40 000 Patienten ein solches Gerät erhalten. Viele von ihnen können gesprochene Sprache verstehen, ohne auf simultanes Lippenlesen angewiesen zu sein. Kinder, die das Gerät früh genug erhalten haben, besuchen oft gewöhnliche öffentliche Schulen. Wichtig ist, dass die Operation möglichst früh (ab 12 Monaten) erfolgt, damit sich die Sprachfähigkeit gut entwickeln kann. Auch bei Erwachsenen lohnt sich die Operation, sofern die Patienten vor der Ertaubung sprechen konnten.
Äusserlich ähnelt das Implantat einem Hörgerät. Hinter dem Ohr befindet sich ein Mikrophon, das den Schall an den Sprachprozessor weiterleitet. Dieser analysiert die eingehenden Signale und berechnet ein Reizmuster, das über eine am Hinterkopf befestigte Sendespule an das Implantat weitergeleitet wird. Vom Empfänger, der sich unter der Hinterkopf-Haut befindet, führen elektrische Leitungen direkt ins Innere der Gehörschnecke, wo über 20 Elektroden die Gehörnerven reizen.
Voraussetzung für die Anwendung eines Cochlear-Implantats ist ein intakter Hörnerv. Das ist bei Patienten mit sogenannter Neurofibromatose (NF2) nicht der Fall. Von dieser vererbbaren Krankheit ist einer von 40 000 Menschen betroffen. NF2-Patienten entwickeln Tumoren, die zwar gutartig sind, die aber trotzdem operativ entfernt werden müssen, weil sie das Gehirn durch ihre Grösse schädigen und schliesslich zum Tode führen. Dabei lässt sich in der Regel nicht vermeiden, dass der Hörnerv durchtrennt wird.
Hirnstamm-Implantate
Als letzte Chance bleibt daher nur die Verwendung eines Hirnstamm-Implantats. Wie Cochlear-Implantate besitzen auch diese Geräte rund 20 Elektroden, die vom Operateur direkt in die Schaltzentrale für akustische Signale im Hirnstamm gelegt werden. «Manche Patienten mit intakten Hörnerven glauben, dass Hirnstamm-Implantate bessere Ergebnisse erzielen als Cochlear-Implantate», sagt Norbert Dillier von der Universität Zürich. «Doch diese Vermutung ist falsch Hirnstamm-Implantate kommen nur in Frage, wenn keine andere Möglichkeit mehr besteht», erklärt der Elektroingenieur, der für die Anpassung der Implantate auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten zuständig ist.
Dilliers Zurückhaltung hat Gründe: Zum einen ist die Operation sehr viel belastender als die Implantation in die Cochlea. Und zum andern sind die bisher erzielten Ergebnisse, die man bei weltweit bisher 200 operierten Patienten erzielt hat, sehr bescheiden.
Das liegt vor allem daran, dass die von den Elektroden angesteuerten Nervenzellen im Hirnstamm sehr viel schlechter bestimmten Tönen zugeordnet werden können als in der Cochlea. Die Reizung im Hirnstamm ist daher viel weniger selektiv, als für ein gutes Sprachverstehen notwendig wäre. Zudem empfinden viele Patienten bei der Reizung oft gar keine akustischen Signale, sondern ein leichtes Kitzeln auf der Haut, der Zunge oder im Hals.
Solche Elektroden können daher nicht genutzt werden. Die wenigen, die übrig bleiben, reichen aber oft nicht, um die Verständlichkeit gesprochener Sprache zu verbessern. So sind die bisherigen Ergebnisse ernüchternd. Eine im Juni dieses Jahres publizierte Studie («Ear Hear», Bd. 23, S. 170), berichtet, dass nur 2 von 17 Probanden nach der Operation in der Lage waren, gesprochene Sprache ohne Unterstützung durch Lippenlesen zu verstehen. Besonders in Situationen mit Hintergrundgeräuschen bringen bisherige Hirnstamm-Implantate keinen Nutzen, und auch telefonieren ist in der Regel nicht möglich.
Diese Ergebnisse decken sich mit den Erfahrungen von Norbert Dillier: «Von den drei in Zürich operierten Patienten kann keiner telefonieren. Im günstigsten Fall unterstützt das Implantat das Lippenlesen», sagt Dillier.
Trotzdem ist er überzeugt, dass sich weitere Versuche lohnen werden. Das grösste Verbesserungspotenzial sieht Dillier in der Entwicklung neuer Elektroden, die den Hirnstamm nicht mehr nur an der Oberfläche reizen, sondern in tiefere Nervenregionen vordringen. Davon erhofft man sich eine bessere akustische Selektivität. Nachdem Versuche mit Tieren erfolgreich waren, soll noch in diesem Jahr der erste Patient mit einem solchen Implantat versorgt werden.
Weitere Informationen beim Bund Schweizerischer Schwerhörigen-Vereine (BSSV) www.bssv.ch
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