Samstag, 26. März 2011
Gebärden sind von UN als Sprache anerkannt
26.03.2011 - WIESBADEN
Von Anja Baumgart-Pietsch
ERZIEHUNG Der gehörlose Yannis erfährt Offenheit und manchmal auch Scheu der Menschen
Yannis ist ein lebhafter Fünfjähriger. Seine Mutter Tamara Schmidt-vom Hofe hat mit ihm viel zu tun - wie das eben mit kleinen Jungs so ist. Yannis hat einen großen Bewegungsdrang, ist neugierig und aktiv. Und gehörlos. Wir treffen ihn mit seiner Mama und Baby Lucy im Kinderwagen in der Fasanerie.
„Das ist ein Wisent“, gebärdet Tamara Schmidt-vom Hofe für ihren Sohn. „Er ist noch klein.“ Yannis freut sich über die großen Tiere, noch mehr fasziniert ihn ein Wolf, der träge durch sein Gehege trottet. Sieht man Mutter und Sohn in Gebärdensprache kommunizieren, wirkt das wie ein harmonisches Ganzes. Wenn die kleine Schwester sprechen lernt, wird sie ebenso auch die Gebärdensprache lernen: „Sie wächst dann zweisprachig auf“, sagt Tamara Schmidt-vom Hofe. Artikel 2 der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 auch in Deutschland ratifiziert wurde, erkennt die Gebärdensprache als eigenständige Sprache an. Viele Frühförderstellen raten Eltern von Kindern mit Gehörlosigkeit aber noch immer zu einer hörgerichteten und lautsprachlich orientierten Erziehung.
Tamara Schmidt-vom Hofe hat sich dagegen entschieden. Yannis ist von Geburt an so gut wie gehörlos und die Familie entschloss sich, gemeinsam die Gebärdensprache zu erlernen. Natürlich hat die Mutter sich informiert, auch über die Möglichkeiten eines Cochlea-Implantats. „Ich habe wirklich das Für und Wider abgewogen“, sagt Tamara Schmidt-vom Hofe. Viele hatten ihr dazu geraten, doch die Familie entschied sich nach Abwägung aller Tatsachen für einen anderen Weg. Mit dem sie bis heute zufrieden sind: „Wir haben es gemeinsam entschieden, gemeinsam gelernt - und unsere Familiensprache ist heute die Gebärdensprache.“
Auch im Kindergarten ist man auf Yannis eingegangen, auch wenn es nicht der räumlich nächst gelegene Kindergarten war, den er besuchte. „Man muss einfach etwas mehr Zeit einplanen“, sagt die freie Journalistin. „Ich muss, um mit Yannis zu sprechen, beide Hände frei haben und ich muss zu ihm hingehen. Ich kann natürlich nicht einfach ins Nebenzimmer etwas rufen.“ Doch es sei keine Tatsache, die den Alltag der Familie dominiere. „Mit einem Kind ändert sich das Leben sowieso“, sagt Tamara Schmidt-vom Hofe. „Und ich bin auch niemand, der lange herumdiskutiert: Für uns hat sich diese Entscheidung bis jetzt als die richtige erwiesen.“
Manche seien etwas scheu in der Begegnung mit ihrem Sohn. „Er versteht mich ja nicht“, sagten manche Eltern, die sich nicht getrauten, den Jungen nach Hause einzuladen. Das sei aber einfacher als man sich vorstelle, so sagt seine Mutter: „Yannis hat selbst viel Geduld mit seinem Gegenüber.“ Durch eine logopädische Therapie kann er auch von den Lippen ablesen, und beherrscht bereits jetzt, noch vor der Einschulung, das Alphabet. „Ich glaube nicht, dass er jemals in der Welt der Hörenden Schwierigkeiten haben wird“, meint Tamara Schmidt-vom Hofe.
Im persönlichen Umfeld sieht sie kaum Probleme. „Es sind eher systembedingte Dinge.“ Problematisch könnte zum Beispiel die Einschulung werden. Nach dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention könne rechtlich keine Regelschule mehr die Aufnahme behinderter Kinder ablehnen. In den meisten Staaten herrscht traditionell das medizinische Modell von Behinderung vor, demzufolge Behinderung unter einem medizinischen Blickwinkel als ein individuelles Defizit betrachtet wird, das für die mangelnde Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen verantwortlich ist. Nach dem sozialen Modell entsteht Behinderung durch die gesellschaftlichen Barrieren, wie unzugängliche Verkehrsmittel, fehlende Gebärdensprachübersetzung, oder zwangsweise Überstellung an die Sonderschule. Nach diesem Ansatz geht es nicht mehr um Fürsorge oder Rehabilitation behinderter Menschen, sondern um ihre gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe.
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