Nicht mehr von Menschen getrennt
Von unserer Mitarbeiterin Pat Christ
Mit Hilfe von Perkussionsinstrumenten ergründet Johannes im Einzeltherapieraum des CIC Süd zusammen mit Logopädin Sabine Speidel die rhythmischen Geheimnisse der Sprache.
WÜRZBURG. Wer sehr schlecht hört, riskiert, isoliert zu werden. "Blindheit, denken die meisten Menschen, sei die schlimmste Sinnesbehinderung", sagt der Würzburger Psychologe Rudi Kroker. "Doch Blindheit trennt 'nur' von Dingen. Gehörlosigkeit hingegen trennt von Menschen." In dem vor 15 Jahren gegründeten "Cochlea Implantat Centrum Süd" der Würzburger Stiftung Hör-Sprachförderung, das Kroker leitet, lernen 170 gehörlose Kinder und Jugendliche, mit Hörprothesen Akustisches einzuordnen und zu sprechen.
Ein richtiger "Schock"
Die Diagnose "Gehörlosigkeit" bringt Eltern zunächst aus dem seelischen Gleichgewicht, so Korker: "Das ist für die meisten ein richtiger Schock." Im "CIC Süd" lernen Mütter und Väter aus Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Hessen, so mit der Behinderung ihres Kindes umzugehen, dass es bestmöglich gefördert wird. Die Krankenkassen finanzieren Eltern implantierter Kindern innerhalb von zwei bis fünf Jahren insgesamt 60 Rehatage. Ein Teil der 170 zwischen neun Monaten und 19 Jahre alten Kinder und Jugendlichen erhält alle zwei Wochen für einen Tag, andere alle vier bis sechs Wochen für zwei Tage Hör- und Sprachtherapie sowie musikalisch-rhythmische Förderung.
Sportfan und Musikliebhaber Johannes Heinl "feiert" heute seinen 50. Rehatag. "Es ist schön hier, es gibt zum Beispiel interessante Turngeräte", sagt der gehörlose Achtjährige aus Ingolstadt, der gerne Rollschuhe läuft, seit Anfang 2010 Gitarre spielt und gerade überlegt, ob er in einen Sportverein eintreten soll. Mit zwei Jahren bemerkte seine Mutter Birgit Heinl, dass bei Johannes etwas anders ist als bei seinen beiden Geschwistern: "Er sagte immer noch nicht 'Mama' oder 'Papa'." In der Klinik wurde die Hörbehinderung des Jungen diagnostiziert. Eine Frühförderpädagogin riet dazu, Johannes ein "künstliches Innenohr" einpflanzen zu lassen. Was in der Würzburger Uniklinik geschah.
Die Zahl der neu mit einem Cochlea Implantat versorgten Gehörlosen liegt in Deutschland, mit steigender Tendenz, bei rund 2000 Patienten pro Jahr. Bei der Operation wird ein Empfänger hinter dem Ohr im Schädelknochen verankert.
Auf diesen Empfänger werden die von einem Sprachprozessor aus Schallwellen umgewandelten, elektrischen Signale übertragen und zu einer Elektrode geleitet, die den Hörnerv in der Gehörschnecke (Cochlea) reizt. Der Sprachprozessor ist so groß wie ein Hörgerät und wird wie dieses hinterm Ohr getragen. Ebenfalls am Ohr befindet sich eine Sendespule, welche die vom Sprachprozessor eintreffenden Signale an das Implantat unter der Haut transportiert.
Da keine Therapiemethode von unerfreulichen Nebenwirkungen frei ist, gilt es auch vor der Cochlea-Operation abzuwägen, welche Vor- und Nachteile damit verbunden sind. "Man kann die Geräte nicht immer tragen, zum Beispiel nicht während einer Sportart, bei der man stark schwitzt", erläutert Logopädin Sabine Speidel vom Cochlea Implantat Centrum Süd. Die Hörbehinderung ist mit der Prothese also nicht beseitigt. Schwimmen und Baden sind nicht möglich, auch nachts müssen der digitale Sprachprozessor und die Sendespule entfernt werden. Schließlich ist das Gerät anfällig, so Speidel: "Es kann zum Beispiel recht schnell ein Kabelbruch passieren."
Johannes kommt beim Schwimmen und Baden zugute, dass er in der Lippenablesetechnik versiert ist. Er versteht seine Mutter dann also immer noch. "Allerdings kann höchstens 30 Prozent des Gesprochenen vom Mund abgelesen werden", sagt Psychologe Kroker. Was daran liegt, dass Laute wie "K" und "R" im Mundbild nicht zu unterscheiden sind. Die meisten Gehörlosen kombinieren mehrere Techniken, um möglichst viel Akustisches mitzubekommen. Johannes, der inzwischen so deutlich reden und so gut hören kann, dass er in die Regelschule geht, beherrscht aus den Anfangsjahren seiner Sprachentwicklung zum Beispiel noch Gebärdensprache. Die hatte damals seine ganze Familie erlernt.
Fragen sind "nervig"
Was den Jungen wurmt, ist, dass er so oft auf das "Ding" auf seinem Hinterkopf angesprochen wird. Seine Klassenkameraden wissen inzwischen, was es damit für eine Bewandtnis hat: "Nervig sind jedoch die fremden Kinder, die immer wieder fragen." Auf dem Pausenhof zum Beispiel oder dem Nachhauseweg. "Manchmal gehe ich dann einfach weg." Ob das die richtige Methode ist, damit umzugehen?, fragt ihn Rudi Kroker, zu dessen Aufgaben auch die entwicklungspsychologische Beratung der Familien gehört. Behutsam bringt er dem Jungen bei, anders zu reagieren: "Du könntest zum Beispiel einfach sagen, dass du nicht jetzt, aber später auf die Frage antworten willst."
Während Brillen inzwischen zum modischen Accessoire avanciert sind, gelten Hörgeräte und vor allem Cochlea Implantate noch immer als fremd - zumal in jungen Jahren. Wie Kinder und Jugendliche mit der ästhetischen Seite ihrer Hörbehinderung umgehen, ist laut Logopädin Sabine Speidel ganz unterschiedlich: "Manche wählen bewusst grellfarbige oder mit Glitzersteinchen versehene Sprachprozessoren. Andere schauen, dass Prozessor und Sendespule unter dem Haar möglichst unsichtbar sind." Im Würzburger Reha-Zentrum tauschen sich die Jugendlichen über ihre Erfahrungen aus. Und lernen voneinander, Hörenden gegenüber selbstbewusst mit ihrer Behinderung umzugehen.
© Fränkische Nachrichten, Samstag, 07.01.2012
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