Ein integrierter Schaltkreis kann bestimmte Hirnfunktionen wiederherstellen
Neuroprothesen sollen eines Tages verlorengegangene Hirnfunktionen ersetzen können. Die Simulation einfacher Hirnprozesse ist bei Ratten bereitsgelungen.
Martin Angler
Prothesen als Ersatz für Gliedmassen wurden bereits im alten Ägypten eingesetzt und sind heute weit verbreitet. Prothesen im Gehirn sind dagegen noch kaum bekannt. In der Vision einiger Forscher können sie in Zukunft die ehemalige Funktion ausgefallener Hirnregionen übernehmen. Einer Gruppe von Forschern ist es vor kurzem gelungen, eine bestimmte Aufgabe des Kleinhirns bei Ratten zu simulieren. Ihre Ergebnisse haben sie auf zwei Konferenzen vorgestellt.
In Zürich entwickelt
Das Kleinhirn koordiniert Bewegungsabläufe. Zum Beispiel speichert es, welche Muskeln in welcher Reihenfolge beim Laufen angespannt und wieder entspannt werden müssen. Wird das Kleinhirn etwa durch einen Infarkt beschädigt, sind Koordinations- und Bewegungsstörungen die Folge. Ausserdem können Betroffene keine neuen motorischen Abläufe mehr erlernen. Hier soll künftig eine Neuroprothese Ersatz leisten.
Unter der Leitung von Paul Verschure haben Forscher am Institut für Neuroinformatik der ETH, der Universität Zürich und später an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, wohin Verschure wechselte, ein Computermodell entwickelt, das eine Lernfunktion des Kleinhirns simulieren kann. Als Grundlagen dienten den Forschern physiologische Studien, Verhaltensstudien und ein neuronales Modell, das die Neurowissenschafter Jeansok Kim und Richard Thompson 1997 entwickelt hatten. Dieses beschreibt die vollständige Signalübertragung zwischen dem Hirnstamm und dem Körper. Verschure und sein Team entwickelten daraus ein nahezu identisches Modell für den Aufbau eines elektronischen Schaltkreises. Auf dessen Grundlage programmierten sie zuerst Computer und dann integrierte Schaltkreise (Field Programmable Gate Arrays, FPGA), die die Nervenverbindungen im Kleinhirn simulierten.
FPGA werden in der Technik vor allem für die Signalverarbeitung in Echtzeit verwendet, und darum geht es bei der Neuroprothese. Sie erfasst die elektrischen Signale im Körper, gleicht sie mit Informationen aus anderen Teilen des Gehirns ab und schickt dementsprechend Signale in den Hirnstamm. Diese aktivieren motorische Neuronen, die dann Muskelkontraktionen im Körper auslösen. Die Datenübertragung erfolgt über Elektroden, die Signale zwischen dem Kleinhirn und dem Hirnstamm hin und her senden. Damit haben die Forscher für eine kleine Sensation gesorgt: Zum ersten Mal überträgt eine Neuroprothese Daten bidirektional. Andere solche Prothesen, wie Cochlea- und Retina-Implantate, können nur in eine Richtung Signale schicken (siehe Kasten).
An Ratten zeigte Verschure in Zusammenarbeit mit Matti Mintz von der Universität Tel Aviv, dass die Neuroprothese funktioniert und eine klassische Konditionierung nachahmen kann. Bei einer Konditionierung lernen Tiere einen angeborenen Reflex, etwa das Schliessen des Augenlids bei einem Luftstoss, mit einem neutralen Stimulus zu verbinden, in diesem Fall mit einem Tonsignal. Ertönt der Ton immer gleichzeitig mit dem Luftstoss, blinzeln die Tiere nach ein paar Trainingsrunden auch wenn der Ton allein ertönt.
In ihrem Experiment betäubten die Forscher die Ratten mit einem Anästhetikum. Damit deaktivierten sie zugleich deren Kleinhirn und Lernfähigkeit. Dann spielten sie einen Ton ab und lösten zeitgleich den Lidschlussreflex durch einen Luftstoss aus. Da das Kleinhirn bei der Konditionierung eine wichtige Rolle spielt, hatte das Training nicht den erwarteten Effekt. Erst nachdem die Forscher in einem zweiten Durchgang den Prototyp der Neuroprothese hinzugeschaltet hatten, lernten die narkotisierten Tiere, in Reaktion auf das Tonsignal zu blinzeln. Diese spezielle Lernfunktion des Kleinhirns konnte die Prothese also erfolgreich imitieren.
Mit einigen Zentimetern ist die Neuroprothese noch zu gross, um sie zu implantieren. Sie muss deshalb von aussen durch die Schädeldecke mit dem Hirnstamm verbunden werden. Allerdings sei bei der derzeitigen Entwicklungsgeschwindigkeit eine Miniaturisierung nur eine Frage der Zeit, sagt Verschure. Auch der Stromverbrauch ist für eine medizinische Verwendung der Prothese zu hoch – sie konsumiert derzeit mehrere Watt. Zum Vergleich: Ein herkömmlicher Herzschrittmacher benötigt durchschnittlich 10 Mikrowatt. Es gibt also noch einige technische Herausforderungen.
Eine Hilfe fürs Gedächtnis
Der Hirnforscher Theodore Berger von der University of Southern California verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Verschure und Mintz. Im Sommer 2011 stellte er eine Neuroprothese fertig, die eine verlorene Gedächtnisfunktion ersetzen soll. Berger spezialisierte seine Prothese für den Einsatz im Hippocampus, wo die Übertragung von Informationen in das Langzeitgedächtnis geschieht. Der Neurowissenschafter implantierte 32 Messelektroden in den Hippocampus von Ratten. Damit konnte er den Weg der Signale über die Nervenbahnen verfolgen. Anhand der dadurch gewonnenen Erkenntnisse entwickelte er einen Algorithmus, der die Übertragung von Informationen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis imitiert.
Der Prototyp kam erstmals bei Ratten zum Einsatz. Die Forscher brachten den Tieren mithilfe einer Belohnung bei, einen von zwei Hebeln zu drücken. Nachdem der Weg der Übertragung vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis medikamentös deaktiviert worden war, konnten sich die Ratten nach einer Weile nicht mehr daran erinnern, welchen Hebel sie drücken mussten. Schliesslich wiederholten die Forscher das Experiment mit Tieren, denen sie eine Neuroprothese implantiert hatten. Diese überbrückte die blockierte Signalübertragung, so dass sich die Ratten an den richtigen Hebel erinnerten. Beim Einsatz der Prothese ohne vorherige Deaktivierung des Übertragungsweges beobachteten die Forscher zudem eine verbesserte Gedächtnisleistung: Die Ratten drückten häufiger den richtigen Hebel.
Tony Prescott, Professor für kognitive Neurowissenschaften an der Sheffield University, sieht derartige Neuroprothesen auch in Zukunft eher als Implantate für einzelne Aufgaben und nicht als Ersatz für ganze Hirnregionen. Denn die Geräte seien vorerst nur imstande, einfache Schaltkreise zu ersetzen. Für einige Patienten erwarte er dadurch aber einen enormen Nutzen.
Vor einer klinischen Anwendung gilt es jedoch, Nebenwirkungen abzuklären. Auch ethische Bedenken werden ein Thema sein. So muss bei kognitiven Neuroprothesen insbesondere untersucht werden, ob ein solches Implantat Auswirkungen auf die Persönlichkeit oder das Bewusstsein einer Person hat. Jens Clausen, Professor für Bioethik an der Universität Freiburg, stellt zudem die Frage nach dem Missbrauchspotenzial motorischer Neuroprothesen. Bei kabelloser Informationsübertragung bestehe die Möglichkeit, die Signale zu manipulieren und so im schlimmsten Fall die Kontrolle über einen Patienten zu übernehmen.
Einsatz in der Robotik
Derweil finden Neuroprothesen in der Forschung Verwendung. So können damit etwa neurowissenschaftliche Theorien über die Verschaltung des Gehirns empirisch getestet werden. Ausserdem könnten sie in der Robotik von Nutzen sein. So testet Verschure etwa, ob der von ihm verwendete Prototyp die Lernfähigkeit von humanoiden Robotern verbessern kann. Er stattete einen Roboter mit einem integrierten Schaltkreis aus, der so programmiert war, dass er Informationen aus den «Sinnesorganen» des Roboters verarbeitete. Näherte sich dieser einem Hindernis, sendete der Schaltkreis Signale an Sensoren, die dann eine Richtungsänderung auslösten. Ohne den Schaltkreis reagierten die Sensoren erst nach einer Kollision.
Verschure will das Gerät nun im Projekt «Robot Companions» testen, in dem humanoide Roboter für die Pflege älterer Menschen entwickelt werden. Sie sollen sich autonom in der Wohnung des Patienten bewegen und etwa bei Stürzen über Funk Hilfe anfordern können. Damit sie komplexe Abläufe wie einen Sturz auswerten könnten, müsse im Bereich Lernfähigkeit und künstliche Intelligenz noch einiges getan werden, sagt Verschure, hier könne die Neuroprothese ideal eingesetzt werden.
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