Mittwoch, 20. Februar 2013

Integrierte Schule in der Kritik


Von Mischa Hauswirth. Aktualisiert am 12.02.2013 25 Kommentare
Behinderte sollten künftig mit Gleichaltrigen ohne Behinderung die Schulbank drücken. Eltern von sprachbehinderten Kindern glauben, dass Betroffene so erst recht ausgegrenzt werden könnten.




Integration in Regelklassen soll allen Kindern den Schulbesuch in ihrem gewohnten sozialen Umfeld ermöglichen.
Bild: Keystone


Integration ist ein Wort geworden, das nicht nur die Gesellschaft und Politik, sondern auch immer mehr die Schule durchdringt. Kinder, die nicht Schweizerdeutsch als Muttersprache sprechen, werden integriert, Kinder mit einem Downsyndrom, und neu sollen auch Kinder, die an einer Kommunikationsbeeinträchtigung leiden, mit Gleichaltrigen ohne Sprach­behinderung die Schulbank drücken. Gemeint sind Stotterer, Lispler und ­Kinder, die sehr einsilbig sind oder leicht autistische Züge haben. Ab 2015 will der Kanton Basel-Stadt solche Schüler in gewöhnliche Klassen schicken und nicht mehr in die Sprachheilschule (GSR) nach Riehen. Im Moment besuchen 91 Schüler die GSR, 80 davon kommen aus Basel, zehn aus Riehen.

Gegen diesen Beschluss werden ­zunehmend kritische Stimmen laut. Er sei zu wenig durchdacht, rein politisch ­motiviert, sagen die einen. Eine Regelschule solle für alle geöffnet sein und niemanden aufgrund einer körperlichen oder geistigen Schwäche ausgrenzen, sagen die anderen. «Wir möchten, dass jedes Kind mit seinem sozialen Umfeld in die Schule gehen kann, sprich mit den anderen Schülern aus dem Quartier», sagt Pierre Felder, Leiter Volksschulen im Erziehungsdepartement Basel-Stadt (ED).

Pädagogischer Nutzen umstritten

Die Behörden können ihren Entscheid zwar auf einen gesetzlichen ­Auftrag vom Grossen Rat abstützen, über den pädagogischen Nutzen eines Alleingangs ohne GSR wird hinter den Kulissen heftig diskutiert. Zwei Politikerinnen haben bereits reagiert und Vorstösse eingereicht. Grossrätin Brigitta Gerber vom Grünen Bündnis will von der basel-städtischen Regierung wissen, welche pädagogischen Überlegungen für diesen Integrationsentscheid sprechen würden und ob es nur finanzielle und rechtliche Gründe dafür gebe. Und die Riehener Einwohnerrätin Marianne Hazenkamp (Grüne) möchte, dass der Kanton seinen Entscheid zum Allein­gang nochmals überdenkt. Es sei sinnvoller, eine Kombination zwischen Regelschule und GSR anzustreben, sagt Hazenkamp, die selbst Lehrerin ist.

Claudia Sturzenegger, Schulleiterin und Geschäftsführerin der GSR, sieht durch den Entscheid ihre Schule nicht bedroht. Der Standort Riehen werde mittelfristig so oder so geschlossen. Viel mehr spielt eine Rolle, was der Kanton den Schülern künftig an Betreuung ­bieten kann. «Was uns auszeichnet, ist die enge Vernetzung von intensiver ­Logopädie-Therapie und gezieltem sprach­heilpädagogischem Unterricht mit dem Ziel, den Kindern eine erfolgreiche Reintegration in die Regelschule zu ermöglichen», sagt Sturzenegger.

Das Erziehungsdepartement widerspricht. Man habe ebenfalls langjährige Erfahrung mit Sprach- oder Kommunikationsbehinderungen, sagt Felder, bisher habe es den logopädischen Dienst gegeben. «Neu wurden dessen Mitarbeitende an die Primarschulen verteilt, und zwar so, dass an jeder Primarschule Logopäden oder Logopädinnen tätig sind», sagt Felder.

Dank Sprachheilschule Vertrauen gefasst

Eltern von kommunikationsbehinderten Kindern hingegen zweifeln die staatliche Kompetenz bei der Sprachheilschule an. Bernhard Frey Jäggi aus Basel hat vier Kinder und könne den Vergleich mit der Regelschule machen, wie er sagt, denn sein Sohn Wanja (11) hat die GSR besucht. «In der ersten Klasse haben wir es in einer gewöhnlichen Schule versucht, doch es ging nicht, obwohl der Junge Logopädie, Heilpädagogik und Audiopädagogik als Unterstützung hatte», sagt Frey Jäggi. Erst dank der Sprachheilschule habe der Bub Vertrauen in seine Fähigkeiten gefasst und Fortschritte gemacht, die in einer gewöhnlichen Klasse bestimmt nicht möglich gewesen wären. Der Druck, der in einer Regelklasse unter Mitschülern natürlicherweise bestehe, führe dazu, dass sich ein sprachbehindertes Kind verschliesst statt sich zu öffnen.

Ähnliches berichtet Katja Bassi aus Riehen. Ihre Tochter Kira (10) hat Probleme bei der Wortfindung und beim Artikulieren von Wörtern. Seit vergangenem Sommer kann Kira wieder eine Regelschule besuchen, vorher ging sie in die GSR. «Ohne dieses Betreuungsprogramm wäre mein Kind heute nicht dort, wo es ist. Kira hat unglaubliche Fortschritte gemacht», sagt Bassi. Die Mutter stellt sich die Frage, wie das ED beziehungsweise die Regelschule das Programm, das alleine Kira brauchte, parallel zum gewöhnlichen Unterricht und dann noch bei viel höheren Schülerzahlen gewährleisten will.

«Reiner Managemententscheid»

Vater Frey Jäggi bezeichnet die ­Abkoppelung von der GSR als «einen reinen Managemententscheid» von Leuten, die zu wenig nah an der Basis seien. Das ganze Vorhaben wirke wie ein Feldversuch auf ihn. Offenbar würde sich bei den Behörden und Politikern kaum jemand ernstlich darüber Gedanken machen, dass letztlich die betroffenen Kinder dafür bezahlen müssten, wenn sich die Betreuung verschlechtere. «Diese Kinder müssen irgendwann in der Wirtschaft bestehen können, und ich denke, es ist volkswirtschaftlich gut investiertes Geld, wenn wir sie mit einer möglichst guten Therapie unterstützen», sagt Frey Jäggi.

Dass sich Eltern aus ihrer Betroffenheit Sorgen machen, kann Pierre Felder verstehen. Er vertritt aber den Standpunkt, dass es immer das Beste für die Entwicklung eines Kindes sei, es in seinem sozialen Kontext zu belassen, will heissen: Es soll auch mit einer Behinderung möglichst in dieselbe Schule gehen können wie die anderen Kinder aus dem Quartier. «In vielen Kantonen gibt es gar keinen kantonalen logopädischen Dienst, dort werden die Kinder schon immer an den Schulen betreut und therapiert. Was wir vorhaben, ist also sicherlich kein neues Modell und hat nichts mit einem Versuch zu tun», sagt Felder.

Alleingang für Riehen zu teuer

Andere Kantone haben von der Integration von Kindern mit einer Sprach- und Kommunikationsbeeinträchtigung der Sprachheilpädagogik in die Regelschule bereits wieder Abstand genommen. Der Kanton Zürich hat ähnliche Projekte wieder verwerfen müssen, weil die Regelschulen die Aufgaben der ­Sonderbetreuung auf fachlicher Ebene nicht hatten stemmen könnnen.

Marianne Hazenkamp würde für Riehen und den Kanton am liebsten das bisherige Modell beibehalten; doch die Gemeinde kann sich einen Alleingang finanziell nicht leisten. Hazenkamp hofft nun, dass der Riehener Gemeinderat das Gespräch mit dem Kanton sucht und mehr Druck macht, damit die Regierung ihr Vorhaben nochmals überdenkt. «Die Kinder müssen am Ende der Schulzeit auf eigenen Beinen stehen können», sagt Hazenkamp. «Es gibt Kinder, welche die Ruhe und Zeit einer ­eigenen Schule brauchen, um ihre Behinderung zu überwinden.»
(Basler Zeitung)

Erstellt: 12.02.2013, 17:00 Uhr

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