Dienstag, 26. Oktober 2010

Der Ohr Blog



‚Hilfe, unser Kind kann nicht hören!’


Erkenntnis der Hörbeeinträchtigung
Genussvoll schmatzt Sophie* an ihrer Mutter Brust. Da – ein Knall: Thomas*, der zweijährige Bruder von Sophie, hat einen Luftballon zerplatzen lassen. Das Mädchen zeigt sich unbeeindruckt, hält nicht inne, schaut nicht auf, auch nicht kurz, sondern widmet sich ausschliesslich seiner Ernährung. Ist Sophie sehr hungrig und müde?
Vielleicht. Die Vermutung wird zur Gewissheit, wenn Sophie, neugierig auf die Welt, in den nächsten Tagen prüfend ihren Kopf wendet, weil es klingelt oder das Telefon läutet. Natürlicherweise möchten wir Menschen fremden Geräuschen auf den Grund gehen. Und am Lebensanfang ist alles noch neu. Akustische Signale von Mutter, Vater und Bruder, von singenden Vögeln, bellenden Hunden, Radiostimmen, Kirchturmglocken und vielem anderem mehr lassen aufhorchen. Die Zuordnung hilft, die Welt zu erfahren und zu verstehen. Sophie ist noch weit entfernt von jenem bewussten Über- oder Weghören, das Erwachsene bei langweiligem Gerede oder aufdringlichen Werbesprüchen zu praktizieren versuchen.
Wenn Sophie dauerhaft auf Geräusche überhaupt nicht reagiert, besteht Verdacht auf Hörbeeinträchtigung. Sie könnte und sollte in Diagnosen kurz nach der Geburt erkannt werden. Dies gelingt nicht immer. Die alltägliche Beobachtung mit dem gesunden Menschenverstand muss im Interesse des Kindes zu Konsequenzen führen.

Diagnosen und Möglichkeiten der Therapie
Am Universitätsspital Zürich, beispielsweise, ermittelt ein Team aus Ärzten und Pädakustikern, ob ein Hörschaden gegeben ist, wenn ja, ob bei beiden Ohren und in welchem Grad. Liegt Schwerhörigkeit vor? Oder ist das Kind gehörlos?
Bei Resthörigkeit können moderne Hörgeräte viel bewirken. Sie verstärken die Schallwellen und erleichtern so zum Beispiel die Kommunikation. Voraussetzung dafür, dass jemand gern sein Gerät oder seine Geräte trägt, ist in technischer Hinsicht gute Anpassung oder Feinjustierung, mit der störende Nebengeräusche wie Pfeiftöne vermieden werden.

Bei Gehörlosigkeit erweist sich oft das Cochlea Implantat (CI) als zweckmässig. Es wird operativ an einem Ohr oder an beiden Ohren angebracht. Das CI überträgt die Töne direkt an die Nerven im Hirn. Dieses speichert die akustischen Signale und befähigt Menschen, erkannte Töne zu deuten und die Muttersprache zu erlernen. Wer erst im Primarschulalter ein CI erhält, startet beim Hören mit Rückstand, kann freilich viel aufholen und gar eigenständig musizieren. Wer gehörlos geboren ist und erst als Heranwachsender ein CI erhält, hat kaum eine Chance auf differenzierten umfangreichen Spracherwerb. Erleidet ein Teenager oder noch älterer Mensch mit ursprünglich normalem Gehör einen Hörverlust, etwa durch Unfall oder Schock, und wird danach mit CI ausgerüstet, so vermag das Hirn auf die in der Kindheit gespeicherten Daten zurückzugreifen. Es kann das beispielhaft genannte Bellen eines Hundes recht schnell wieder zuordnen.
Ausblick

Mithilfe moderner Medizin, Technik und Lernmethoden können gehörlos Geborene ihre Beeinträchtigung weitgehend auffangen. Sophie wird genussvoll einem Konzert lauschen. Bei einer Bewerbung als Telefonistin wäre sie nicht Favoritin.
Sophie benötigt viel Charakter- und Willensstärke und Kraft, um dieses Ziel zu
erreichen. Ihr sind liebevolle Mitmenschen zu wünschen.
*Die Namen sind frei erfunden.
© Susi Ungricht, Oberglatt, ist langjährig erfahrene Audiopädagogin. Sie ist
Mutter einer erwachsenen Tochter mit Cochlea Implantat an beiden Ohren.
www.audiopaedagogik.ch

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