Stellungnahme zur Cochlea Implantation vom Schweizer Gehörlosen Bund
Cochlea-Implantat (CI) bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen
www.sgb-fss.ch
Stellungnahme des Schweizerischen Gehörlosenbundes SGB-FSS
Für viele Eltern ist es sicher eine traumatische Erkenntnis zu erfahren, dass das eigene Kind gehörlos oder schwerhörig ist. Es entspricht nicht dem Ideal einer traditionellen Familie. Eltern müssen oft viele Hindernisse überwinden, bevor die beste Lösung für die Zukunft des eigenen Kindes gefunden werden kann.
Die Betroffenen selbst empfinden ihre eigene Gehörlosigkeit nicht als traumatisch. Sicher ist das Leben ohne Gehör nicht immer einfach. Es ist aber lebenswert und bietet inmitten des lärmigen Alltags manchmal sogar Vorteile. Gebärdensprache und Gehörlosenkultur ermöglichen Gehörlosen den Zugang zu einer eigenen sozialen Identität und Entfaltung. Die grösste Schwierigkeit besteht jedoch darin, eine ausreichende Sprachkompetenz zu erwerben.
Die Entwicklung der hörtechnischen Hilfsmittel
Als ab ca. 1960 die Invalidenversicherung (IV) Hörapparate subventionierte, bedeutete dies, dass begonnen wurde, vorhandene Hörreste effizienter auszunützen. Wenn auch Hörapparate vielen gehörlosen Kindern und Jugendlichen beim Hören und Sprechen Erleichterung gebracht haben, so sind die psychosozialen Belastungen nicht kleiner geworden. Die Erwartungen, mit den Hörgeräten eine volle Integration zu erreichen, waren und sind sehr hoch.
In einer schwedischen Stellungnahme wird wie folgt argumentiert: "Heute wissen wir, dass die Hörapparate nicht in allen Situationen funktionieren, wie zum Beispiel im lärmigen Alltag. Das Hören und Sprechen sind nicht die einzigen Kompetenzen, die für eine gesunde Entwicklung des Kindes wichtig sind. Es muss auch fähig werden, an feinen Interaktionen mit den Eltern und der Umwelt teilzunehmen."
Das Cochlea-Implantat regt dank Mikroelektroden noch vorhandene Hörnerven im Innenohr direkt an. So können vor allem Ertaubte (vor oder nach dem Spracherwerb) erreicht werden, deren minimale Hörreste mit den vorhandenen Hörapparaten nicht genügend aktiviert werden können. Zweifellos werden so erstaunliche Hör-Erfolge erzielt.
Es ist aber wichtig festzuhalten, dass das Cochlea-Implantat das normale Hören nicht ermöglicht. Es handelt sich um eine Hörprothese. Ohne Prothese bleibt die gehörlose Person gehörlos!
Die psychsoziale Entwicklung
Die psychosoziale Entwicklung des gehörlosen Kindes muss unterstützt und gefördert werden. Mit der Einführung des Cochlea-Implantates erschien in der Fachpresse die These, dass es praktisch keine Gehörlosen mehr geben würde, die Gebärdensprache und somit auch gebärdende Gehörlose gemieden werden sollten. So glaubte die Fachwelt, das Kind vor negativen Einflüssen auf die Sprachentwicklung und die Integration zu bewahren. Damit verbunden waren euphorische Erwartungen in die Integration der neu bezeichneten "hörgeschädigten Kinder".
Diese These gab weltweit Anlass zu heftigen Diskussionen, hauptsächlich bei den Gehörlosen. Nationale Gehörlosenorganisationen haben Stellungnahmen zum Cochlea-Implantat erstellt. Sie drückten ihre Sorge nicht nur aus kulturellen und linguistischen Überlegungen aus, sondern betonten auch die Wichtigkeit der psychosozialen Entwicklung des gehörlosen Kindes. Sie befürchteten, dass die einmalige weltweite Solidarität unter Gehörlosen verloren ginge und ihre Sprache und Identität durch den Verlust der Gebärdensprache gefährdet würden.
Auch wenn das Cochlea-Implantat aus medizinischer Sicht ein Erfolg ist, liegen doch verschiedene Hypothesen in Bezug auf die psychosoziale Entwicklung des Kindes vor. Nach der heutigen Erfahrung muss festgehalten werden, dass trotz allem Fortschritt bei Kindern, die noch vor dem Spracherwerb implantiert wurden, nur kleine Erfolge erzielt werden. Ein monatelanges Hörtraining sowie die kontinuierliche Anwendung von Gebärdensprache und Lippenlesen müssen unbedingt der CI Operation folgen.
Informationen
Der SGB-FSS zeigt sich offen für gehörlose oder ertaubte erwachsene Personen, die vom Nutzen des Implantates überzeugt sind. Beunruhigend ist aber, dass gewisse Aerzte und Beratungsstellen einseitige Empfehlungen abgeben oder gar Druck auf die Eltern ausüben, gehörlose Kleinkinder zu implantieren. Über Risiken und mögliche Konsequenzen wird kaum informiert (gesundheitliche Störungen, psychologische Probleme, Identitätsfindung). Oft wird der Unterschied zwischen "Hörgewinn"(= die Möglichkeit des Hörens) und des effektiven Verstehens und der Fähigkeit des Gebrauchs der Sprache nicht besprochen. Eltern müssen objektiv und vollständig informiert werden und Auskunft erhalten über bestehende Gehörlosenorganisationen, über die Gebärden- und Lautsprache sowie über Elternvereinigungen und Institutionen für gehörlose Kinder.
Ziele des SGB-FSS
Eine Arbeitsgruppe des FSS-RR (Region Französische Schweiz) verfolgt seit 1998 die Problematik des Cochlea-Implantates. Ziel ist es, Informationen und Erfahrungen mit dem Cochlea-Implantat und seinen Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der implantierten Person zu sammeln, damit den Eltern vollständige und objektive Informationen zur Verfügung stehen über:
den neuesten Stand der technischen Entwicklung, aber auch über Resultate und durch misslungene Operationen aufgeworfene Fragen
Ansichten von Aerzten, Eltern und Betroffenen
Erfahrungen in der Erziehung gehörloser Kinder und deren neuesten Erkenntnissen
die Realität des Gehörlos-seins
die Integrationserfahrung gehörloser Erwachsener im beruflichen und sozialen Alltag
Empfehlungen des SGB-FSS
Die Ergebnisse und Erfahrungen der letzten Jahre bestärken uns, folgende Empfehlungen abzugeben:
Solange das Risiko und die möglichen Auswirkungen auf den Spracherlernprozess und die psychosoziale Entwicklung des Kindes langfristig nicht klar beurteilt werden können, empfiehlt der SGB-FSS, keine Cochlea-Implantationen bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen vorzunehmen. Der SGB-FSS empfiehlt den Eltern und Angehörigen gehörloser Kinder, eine bilinguale Erziehung zu wählen.
Wenn Eltern eines gehörlosen Kindes sich für eine Cochlea-Implantation entscheiden, empfiehlt der SGB-FSS folgendes:
Die Eltern und deren gehörloses Kind haben Anrecht auf vollständige und gut verständliche Informationen. Die Betroffenen müssen in der Lage sein, ihre Wahl mit Sachkenntnis und objektiver Information treffen zu können. Eine Operation ist immer ein Risiko, es gibt keine Erfolgsgarantie.
Ein implantiertes Kind hat Anrecht auf eine zweisprachige (bilinguale) Erziehung, die auf der Gebärdensprache sowie der schriftlichen und gesprochenen Sprache basiert. Die Allgemeinbildung muss mit aller Entschiedenheit gefördert werden.
Das implantierte Kind soll an Aktivitäten von Gehörlosenorganisationen teilnehmen können, um verschiedene soziale Entfaltungsmöglichkeiten zu erwerben und kennen zu lernen.
Damit diese Voraussetzungen erreicht werden können, müssen:
Kompetente gehörlose Personen in Arbeitsgruppen mitwirken, welche die ethischen Aspekte der Cochlea-Forschung beurteilen.
Ergebnisse erfolgreicher und misslungener Implantationen und deren Folgen auf die psychosoziale Entwicklung der implantierten Kinder und Erwachsenen allen Eltern und Gehörlosenorganisationen weitergeleitet werden. Es ist wichtig, dass die linguistischen, psychologischen und sozialen Auswirkungen des CI erforscht werden.
Hörende und gehörlose Spezialisten die psychosoziale Entwicklung gehörloser Kinder und Jugendlicher regelmässig beurteilen und Empfehlungen über weitere Schritte abgeben.
implantierte Kinder zur Identitätsfindung und zum erleichterten Bildungserwerb von der Gebärdensprache profitieren können.
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