Freitag, 8. April 2011

Ihre Welt ist still

Auch wenn beide Eltern gehörlos sind, fühlt sich die Familie Bilen-Zumbach im Unterland pudelwohl. Einfach war und ist er aber nicht immer – der Alltag in einer von Hörenden dominierten Welt.
Kathrin Morf

 
Während Molu (2) losfährt, diskutieren Tamara Zumbach und Mustafa Bilen, ob sie den Bus oder das Auto nehmen sollen. «Taubstumm», stellen sie klar, seien sie trotz Gebärden nicht. Sie können nur nicht so gut sprechen wie Hörende. Bild: Johanna Bossart Ein Flugzeug donnert über den Himmel, Autos brummen durch Eglisau – für Tamara Zumbach ist die Welt dennoch still: Die 27-Jährige ist ebenso gehörlos wie ihr Lebenspartner Mustafa Bilen. Nur ihr zweijähriger Sohn Molu vermag all diese Geräusche zu hören. «In Eglisau fühle ich mich sehr wohl», erklärt Bilen mittels Gebärdensprache*. Ganz anders war dies an seinem ersten Schweizer Wohnort.

Bilen ist in der Türkei geboren – hörend. Verstummt ist seine Welt, als er im Alter von sieben Jahren an einer Hirnhautentzündung erkrankte. «Ich bin ein Optimist und lernte schnell damit zu leben», erzählt der 38-Jährige. Vor elf Jahren zog er in die Schweiz, heiratete seine damalige Freundin, das Paar bekam zwei Töchter.

«Eines Tages schaute die Sozialbehörde vorbei», berichtet er und wirkt jäh sehr zornig. Die Kinder würden nicht «richtig» aufwachsen bei zwei Gehörlosen, monierten die Vertreter der Zürcher Gemeinde; sie müssten zu einer Tagesmutter. Bilen gehorchte und brachte die Kleinen zur Betreuerin, während seine Frau allein und traurig zu Hause blieb. Erst nach sechs Monaten liess die Behörde von ihrer Forderung ab. «Bis dahin», sagt Bilen, «verstand ich die Welt nicht mehr.»

«Hunger»-Geste statt weinen

Nachdem seine Ehe in die Brüche ging, verliebte sich Bilen vor gut drei Jahren in Tamara Zumbach, eine selbstsichere Gehörlose. «Meine ganze Familie ist gehörlos», erzählt sie. «Sprechen habe ich jedoch gelernt. Nicht perfekt zwar, aber es reicht, um mich verständlich zu machen.» Von Implantaten für Gehörlose hält die angehende Sozialpädagogin nichts. «Sie produzieren unnatürliche Geräusche. Und das Gebärden entspricht nun einmal unserer Natur. Wir haben eine ausgereifte Sprache, eine eigene Kultur. Diese darf nicht verloren gehen.»

Ihr Sohn ist in beiden Kulturen zu Hause: Molu lernt sprechen – von seinen Eltern, Bekannten sowie Nachbarn – und beherrscht die Gebärdensprache. Dank ihr konnte er sich mitteilen, lange bevor seine Altersgenossen zu sprechen begannen. «Hunger» signalisierte er mit vier Monaten und bald einmal war ihm das Handzeichen für «Schoggi» das liebste von allen.

Ein unerklärliches Gespür

Auch wenn sich die beiden in Eglisau akzeptiert fühlen – die Welt der Hörenden stellt sie durchaus vor Probleme. Am meisten nervt sie, dass viele Menschen so stark auf das Verbale fixiert sind, dass sie Gehörlose für dumm halten. «Sie denken, dass nicht richtig im Kopf ist, wer nicht richtig sprechen kann», empört sich Zumbach. «Und sie sind unsicher. Darum entscheiden sich viele Vorgesetzte für einen Bewerber, der weniger qualifiziert ist, aber hören kann», ergänzt Bilen, der als Zeitungsverträger arbeitet.

Von den meisten Menschen wünscht sich das kontaktfreudige Paar aber bloss mehr Geduld und Verständnis. «Passanten oder auch Schalterbeamte müssen nur langsam sprechen und Blickkontakt halten, dann verstehen wir sie», so Bilen. Um die Aufmerksamkeit der Gehörlosen auf sich zu ziehen, darf man sie übrigens berühren – oder auf den Boden stampfen. «Vibrationen nehmen wir sehr gut wahr», erklärt Bilen, der gerne zu den Bässen von Techno tanzt.

«Zudem spüren wir zum Beispiel, wenn sich beim Autofahren ein Krankenwagen nähert», ergänzt Zumbach. Wie genau, vermag sie nicht zu erklären. «Hörende scheinen dieses Gespür jedenfalls verloren zu haben, weil sie sich auf ihre Ohren verlassen», meint sie – und erzählt von einem weiteren Stolperstein, der ihr eben eingefallen ist: Durchsagen. «Manchmal hauen im Zug plötzlich alle ab», sagt sie lachend. «Und ich bleibe ratlos sitzen – bis der Kontrolleur kommt und mir mitteilt, ich hätte den Zug wechseln sollen.»

Ja, die beiden lachen viel in ihrem Alltag, der auch ohne solche Stolpersteine turbulent genug wäre. Vor allem Tamara Zumbach ist kaum zu bremsen, spielt Fussball im Gehörlosenverein und liebt das Weltenbummeln. «Da ich es gewohnt bin, ohne Worte zu kommunizieren, kann ich mich mit Menschen in aller Welt verständigen. Und in den Schlafsälen der Jugendherbergen nervt mich sicher kein Schnarchen», erklärt sie schmunzelnd und betrachtet Molu, der ihr freundlich sein angebissenes Guetzli anbietet. «Auch wenn das manche Hörende nicht glauben mögen», meint sie dann, «mir fehlt rein gar nichts.»

*Das Interview wurde mithilfe einer Gebärdendolmetscherin geführt.

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