Dienstag, 21. Dezember 2010

Das Cochlea-Impantat aus Sicht der Gehörlosen


 Ein grosser Teil der Gehörlosen hat starke Bedenken gegen die Verbreitung des Cochlea-Implantats oder lehnt es ganz ab. In diesem Beitrag werden ihre Einwände kurz zusammengefasst und versucht, eine Eindruck von der Komplexität des Themas zu vermitteln.

Kein anderes Thema hat die Gemeinschaft der Hörgeschädigten, insbesondere die der Gehörlosen, so bewegt wie die Entwicklung und Anwendung des Cochlea-Implantats (CI), das die HNO-Mediziner als vielversprechendes Mittel zur Behebung der Hörschädigung preisen. Plötzlich werden die Gehörlosen wieder mit der alten Frage konfrontiert, deren Realisierung bisher als Utopie anzusehen war und jetzt scheinbar in greifbare Nähe gerückt ist: Falls einem Gehörlosen die Möglichkeit gegeben wird, hören zu können, wie würde er reagieren?


Als Mitglied der hörenden Majorität wäre man verwundert, dass Gehörlose große Schwierigkeiten haben, diese Frage eindeutig zu beantworten oder diese Möglichkeit sogar ablehnen.

Eher betrachten die Gehörlosen das Cochlea-Implantat als ein "Machtinstrument" einer Gruppe von Hörenden, insbesondere den hörenden Fachleuten oder Angehörigen, die die unauffällige Assimilierung der Gehörlosen an die hörende Majörität anstreben. Alle verbliebenen Hörreste sollen insofern ausgenutzt werden, dass der Erwerb einer Lautsprache noch über den auditiven Weg ermöglicht werden kann und der Gehörlose sich den Hörenden lautspachlich verständlich machen kann. Dabei wird oft vergessen, dass nicht allein die Hörfähigkeit für eine erfolgreiche Kommunikation ausreichend ist. Viele andere Faktoren, wie parallel zur Kommunikation verlaufende kognitive Prozesse, Umweltbedingungen oder die Art und Qualität der codierten Informationen sind ausschlagebend für eine ungestörte und gesicherte Kommunikation und die gesicherte Übermittlung von Bedeutung.


Lautsprache gegen Gebärdensprache
 
Die bisherigen Assimilierungsversuche von "wohlmeinenden" Hörenden führten sogar dazu, den Gehörlosen eine Sprachform zu verbieten, die sich im Laufe der sprachlichen Evolution herausgebildet hatte: die Gebärdensprache. Dieses linguistisch betrachtet vollwertige und differenzierte Sprachsystem mit eigener Grammatik und Lexik stützt sich auf eine den Gehörlosen verbliebene Sinnesfunktion: die der visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung.

Die Vetreter der sogenannten "Deutschen Methode" befürchteten jedoch, dass sich die Verwendung der Gebärdensprache nachteilig auf den Erwerb der Lautsprache auswirken würde. So wurde die Gebärdensprache in allen Bildungseinrichtungen verboten und die Kommunikation nur noch über Lippenlesen und mittels Artikulationsversuchen unter Ausnutzung der vorliegenden Hörreste mit Hörgeräten gestattet.
Als Folge der jahrhundertlangen Unterdrückung der Gebärdensprache wurden die Gehörlosen zu "stummen" Wesen degradiert, was sich auch in dem verbreiteten Begriff "Taubstumme" niederschlug. Dieser Begriff verstärkte das Stereotyp-Bild des Taubstummen, der auch im Geiste beschränkt sei, wenn er nicht sprechen könne.
Jedoch wurde die Gebärdensprache im privaten Bereich und in den Gehörlosenorganisationen weiter verwendet und auf diese Weise die Gehörlosen vor dem Absturz ins Nichts bewahrt. Durch die Gebärdensprache konnten die Gehörlosen ihre Bedürfnisse nach Informationen und sozialem Austausch stillen. Es bildete sich eine soziokulturelle Nische, in der sich eine Gemeinschaft der Gehörlosen mit der Ausprägung eigener kultureller Merkmalen etablieren konnte.

Im Zuge der Wiederentdeckung der Gebärdensprache durch die Linguisten seit den 60er Jahren, insbesonders in den Vereinigten Staaten, entstanden auch Forderungen nach dem Einbezug der Gebärdensprache im Unterricht gehörloser Kinder. Die so genannte "bilinguale Methode" soll gewährleisten, dass gehörlose Kinder auf Basis der ihrer visuellen Ausrichtung adäquaten Gebärdensprache die Lautsprache verstehen und produzieren können. Mehrere bilinguale Modellversuche zeigen bereits vielversprechende Ergebnisse. Sie weisen nach, dass auf Basis der Gebärdensprache auch die Fähigkeiten sowohl der Rezeption von Lautsprache mittels Hörgeräten, Absehen von Mundbildern und Hörtaktik, als auch die der Produktion von Lautsprache in Laut- und Schriftform verbessert wurden.

Dementsprechend waren die Hoffnungen der Gehörlosen auf Integration in die Gesellschaft mittels Gebärdensprache (Gebärdensprachdolmetscher, Bildtelefon etc.) ohne Assimilationszwang hoch: Einmal in der Bildung Gehörloser anerkannt, schien die Chance auf eine gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprache zu steigen.


Bedrohung der Gebärdensprache durch das CI
 
Durch die Einführung des CI fühlen sich nun die Vertreter des klassischen Ansatzes dazu berufen, durch pädagagogische Maßnahmen die medizinische Therapie des CI zu unterstützen und durch intensive auditive und lautsprachliche Übungen (hörgerichtete Erziehung) dem hörgeschädigten Kind den Zugang zur Lautsprache zu ermöglichen. Somit sei ihrer Ansicht nach der Ansatz der bilingualen Methode überflüssig.
So ist die Angst der Gehörlosen berechtigt, dass der Einsatz des CI den Methodenstreit fortsetzt und die Errungenschaften auf dem Wege der gesetzlichen Anerkennung der Gebärdensprache zunichte macht. Der Streit führt dazu, dass sich Gehörlose in ihrem Wesen unverstanden fühlen und meinen, dass ihnen ihre Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft aberkannt würde. Auch wurden Befürchtungen laut, dass die Gemeinschaft der Gehörlosen ausgehöhlt würde oder gar bedroht sei, falls den gehörlosen Kindern der Zugang zur Gebärdensprache erneut verwehrt würde.

Meines Erachtens ist jedoch die teils heftige Ablehnung des CI durch die Gehörlosen nicht in erster Linie auf die Ängste als Mitglied einer verschwindenden Minderheit (auch angesichts der aktuellen Genetik-Diskussion, die eventuell vererbbare Gene der Gehörlosigkeit ausmerzen könnten) zurückzuführen, sondern auf die eigenen Erfahrungen mit den hörenden "Paternalisten", die angeblich das Beste für die Gehörlosen wollen und sie mit allen Mitteln in die hörende Mehrheit zu integrieren versuchen, anstatt auf ihre eigenen Bedürfnisse einzugehen und ihre kompensierten Fähigkeiten zu nutzen.

Auch wehren sie sich gegen das medizinische "Menschenbild", das Hörunfähigkeit als einen defizitären Makel betrachtet, den es zu beheben gilt und das somit den Gehörlosen zu einem unvollständigen Wesen herabsetzt. Damit rückt diese Sichtweise das Leben Gehörloser in die gefährliche Nähe des "unwerten Lebens" der Nazi-Ideologie, unter der auch die Gehörlosen zu leiden hatten.


Die Gefahr falscher Hoffnungen
 
Zudem haben Mediziner und Pädagogen eingestanden, dass der Einsatz des CI nicht die gleiche Hörqualität gewährleisten kann, wie es vielen Eltern durch die Lektüre der Boulevardpresse ("Das Wunder - Mein Kind hört wieder!") suggeriert wird. Ein Gehörloser mit geringen Hörresten kann mit dem CI nicht das Niveau eines Normalhörenden erreichen, höchstens ist dann seine Situation mit der stark Schwerhöriger vergleichbar.
Zwar können durch das Hörtraining Fähigkeiten entwickelt und gefördert werden, so dass sich bei CI-Trägern die Hörqualität immer noch von der Hörendern unterscheidet, die Rezeption der auditiven Reize und deren Einordnung durch intensives Training jedoch insoweit angeglichen werden können, dass entsprechende Reaktionen sich nicht von denen Normalhörender unterscheiden. Doch können häufig bestimmte Erwartungen wie die Erweckung musikalischer Eindrücke und Vorstellungen vom gemeinsamen Singen nicht erfüllt werden. Bei anderen Hörgeschädigten wie schwerhörigen Kinder mag das CI den erwünschten Effekt erzielen; es besteht jedoch dann die Gefahr, dass diejenigen stark hörgeschädigten CI-Träger, die die Zielvorgaben nicht erreichen konnten, als Versager angesehen werden oder die Schuld an die beteiligten Eltern wegen "mangelnder Mitarbeit" abgeschoben wird.

Gehörlose wissen aus eigener Erfahrung, dass mit dem Eingang in die Berufswelt der einzelne Hörgeschädigte hohen kommunikativen Belastungen ausgesetzt ist, die auch das CI nicht alleine auffangen kann. Entsprechende Enttäuschungen stark Hörgeschädigter, die sich in Erwartung verbesserter Kommunikation ein CI implantierten ließen, führten teilweise zu psychischen Erkrankungen. Es wird unter anderem davor gewarnt, dass sich durch die tägliche Unsicherheit in der Kommunikation und die damit verbundene Desorientierung in der kommunikativen Selbstsicherheit eventuell marginale Persönlichkeitsstörungen herausbilden können. Ohne den Rückhalt in einer Gebärdensprachgemeinschaft ist dann der CI-Träger nach enttäuschenden Erfahrungen vielleicht nicht mehr in der Lage, sein Leben in der hörenden Gesellschaft erfolgreich zu bewältigen.


Gehörlose Kinder und CI
 
Neben den Gehörlosen selbst waren es auch vor allem Psychologen, Seelsorger, Gebärdensprach-Linguisten und Pädagogen, die den Einsatz der Gebärdensprache in der Erziehung und Bildung gehörloser Kinder forcieren oder einen vorsichtigeren Umgang bei der Indikation für den CI-Einsatz anmahnten.
In der ersten Euphorie wurden ebenfalls bei Eltern gehörloser Kinder Hoffnungen und Erwartungen geschürt, die in den meisten Fällen unerfüllbar bleiben.

Der Diagnoseschock nach der Feststellung der Hörschädigung sitzt oft so tief, dass die Eltern ohne psychische Begleitung nicht ohne weiteres in der Lage sind, sich sachlich mit den kommunikativen und sozialen Auswirkungen der Hörschädigung auseinanderzusetzen und sich auf die "andere Wirklichkeit" der Gehörlosen einzulassen. Damit wird auch die persönliche Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis als Hörende versäumt, wodurch andere interessante Aspekte in der Betrachtung des "Menschseins" oder andere Lebensentwürfe, wie es die Gehörlosen vorleben, nicht zur Kenntnis genommen und ausgeblendet werden.
Die häufige Unfähigkeit, mit der Diagnose der Hörschädigung umzugehen, führt bei Eltern zumeist zum "Klammern am Strohhalm": Jede medizinische Therapie einschließlich das Cochlea-Implantat wird als segensreich empfunden. Dabei wird die Auseinandersetzung mit der eigentlichen Ausgangssituation des hörgeschädigten Kindes vermieden, man orientiert sich am eigenen Status als Hörender. Das Kind solle nach Möglichkeit die gleiche Hörfähigkeit wie die Eltern erlangen, damit es dann die Lautsprache erwerben und so integriert werden kann.

Dabei wird außer acht gelassen, dass das Kind bereits in den ersten Jahren multisensorisch die Umwelt erfährt, wobei eventuell fehlende Wahrnehmungsfähigkeiten, hier die auditive Wahrnehmung, durch alternative Wahrnehmungsstrategien wie der gesteigerten visuellen Wahrnehmung kompensiert werden. Anstatt diese Umstände zu berücksichtigen und zu nutzen, hält man krampfhaft an Vorgaben der hörgerichteten Erziehung fest. Dass der Stress zu Belastungen in der familiären Interaktion führen kann, haben Beratungsstellen für Eltern hörgeschädigter Kinder bereits registriert, wo viele Eltern über unvorhergesehene Folgeprobleme zumeist psychischer Art nach der CI-Implantierung berichten. Welche Auswirkungen dies wiederum auf die persönliche Entwicklung der gehörlosen Kinder haben wird - insbesonders in der sensiblen Phase der Pubertät, in der Eckpunkte zur Ausrichtung der eigenen Identität und des Selbstbewusstseins gelegt werden -, konnte bisher aufgrund der jungen Geschichte der CI-Implantierung kaum untersucht werden.

Ausgehend davon wurden auch ethische Bedenken im Umgang mit den hörgeschädigten Kindern laut: Kleine Kinder können nicht selbst darüber verfügen, ob sie das CI wollen oder nicht. Eltern können sich nicht in die Situation der gehörlosen Kinder und ihre Ausgangssituation für die spätere Entwicklung als Hörgeschädigte versetzen und wissen, was das Beste für hörgeschädigte Kinder ist. Forderungen nach der Einbeziehung von hörgeschädigtem Personal in der Rehabiltation von CI-Trägern und die Elternberatung kamen auf. Bisher haben die CI-Zentren, die sich der Hörerziehung widmen, kaum hörgeschädigtes Personal eingestellt, das ebenfalls in der Beratung der Eltern aktiv werden könnte und durch positive Rollenmodelle zur Entkrampfung in der Interaktion zwischen Kindern, Eltern und Pädagogen beitragen könnte.

Auch stellt sich die Frage, ob der operative Aufwand für das Kleinkind noch angemessen ist. Psychologische Untersuchungen weisen nach, dass Kinder nach schweren Operationen oft unter Traumata leiden. Die Frage ist nun, ob der Gewinn durch die verbesserte Hörfähigkeit die psychischen und medizinischen Folgerisiken des operativen Eingriffs ausreichend rechtfertigen kann.

Darüberhinaus konnten auch andere Bedenken im biotechnischen Bereich - unter anderem mögliche Langzeitauswirkungen der elektischen Impulse bei der Übertragung der Hörreize in die Elektroden auf die sensiblen Gehirnbereiche, insbesonders in der Wachstumsphase des Kindes - nicht eindeutig widerlegt werden.

Zwar sind die Mediziner darum bemüht, die Folgerisiken des CI zu reduzieren. Doch die Verantwortung über die weiterreichenden Auswirkungen im täglichen Leben der CI-Träger wird nicht von Ihnen getragen.


Die Position des Deutschen Gehörlosen-Bundes
 
Der Deutsche Gehörlosen Bund (DGB) hat bereits 1993 in seiner Stellungsnahme vor einem unvorsichtigen Umgang mit dem CI gewarnt. Die Argumente des DGB entsprechen jedoch einer teilweisen Resignation vieler Gehörloser, wenn es in seiner Stellungsnahme zuerst vor dem Missbrauchs des CI als Argument zur Fortführung der "Deutschen Methode" warnt, aber dann eingestehen muss, dass nichts gegen das CI in Verbindung mit einer bilingualen Erziehung spricht. Es wird lediglich wird eine Herausbildung einer neuen Hörgeschädigtengruppe neben den Gehörlosen und Schwerhörigen mit möglichen negativen sozialen Auswirkungen anstatt einer Homogenisierung der Hörgeschädigten durch die Identifikation mit der Gebärdensprachgemeinschaft befürchtet. Es ist nicht abzusehen, wie sich die Gruppe der CI-Träger in der Gesellschaft der Hörenden bzw. der Hörgeschädigten einordnen wird.

Neuere Ansichten und Ansätze in der Gehörlosenpädagogik, welche die bilinguale Methode und das CI als sich gegenseitig ergänzende Rehabilitationssysteme betrachten und beides miteinander zu verbinden versuchen, befinden sich zurzeit noch in der Diskussionsphase, da damit noch nicht die Bedenken des DGB ausgeräumt werden können.

Die wichtigsten Bedenken gegen das CI werden also nicht alleine von der medizinischen Seite vorgetragen (es existieren ebenfalls wie bei allen anderen medizinischen Eingriffen Risiken, die als Früh- oder Spätkomplikationen wie zum Beispiel die Stimulation des Nervus facialis dokumentiert sind), sondern es werden hauptsächlich bioethische und psychosoziale Folgen befürchtet, wie sie beispielweise auch in der Genetikdiskussion bekannt sind.

Bislang ließ sich auch nicht ganz der Verdacht von wirtschaftlichen Verstrickungen der Mediziner ausräumen, die mit dem CI-Vertrieb verbunden sind. Jedenfalls wird es von den Gehörlosen als Ungerechtigkeit empfunden, dass einerseits für die CI-Therapie ungeheure Geldmittel vorhanden sind, aber auf der anderen Seite günstigere Rehabilitationsmittel wie Kommunikationsgeräte (Bildtelefon, Faxgeräte etc.) und Batterien für Hörgeräte eingespart werden, zumal die erwartete Integration als nicht gesichert gilt und die CI-Träger weiterhin auf andere Mittel angewiesen sein werden.

Zurzeit werden auf Seiten der CI-Befürworter und -Gegner Untersuchungsergebnisse zu verschiedenen psychosozialen und pädagogischen Aspekten der CI-Implantierung herausgebracht, die sich sich oft widersprechen und eher zur Verwirrung statt zu einer sachlichen Auseinandersetzung beitragen. So wurden bereits viele der oben genannten Bedenken als unbegründet bezeichnet, jedoch konnten diese bisher nicht eindeutig entkräftet werden.

Bis zu einer eindeutigen Entkräftigung der Argumente gegen das CI werden daher die Gehörlosen gegenüber dem Themenkomplex nicht vorbehaltlos positiv eingestellt sein, sondern die Entwicklung weiterhin kritisch verfolgen.



Dipl.Psych. Simon Kollien
Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser
Universität Hamburg

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